[Susi] Tag 1, Klarstellung

Hätte die Videodatei keine eindeutigen Daten, würde ich nicht glauben, dass diese Aufnahme vom ersten Tag stammt, den Susi bei uns war:

So schüchtern und schreckhaft sie ganz am Anfang noch war — schüchtern ist sie nicht mehr, schreckhaft manchmal immer noch –, so hat sie doch eines klargemacht: „Hier wird gewohnt, wie ich das will!“ :) [Wobei festzuhalten ist, dass Susi kein Hund ist, der die Wohnung umdekoriert.]

Montag

Was wir als Bewohner der sogenannten westlichen Welt und wenigstens latent Angehöriger des sogenannten christlichen Glaubens von Montagen zu halten haben, wissen wir.
Ich auch.

Es fing damit an, dass Frauchen den ersten Gassigang machen wollte. Huch. Ich war geistig schon so gut wie unterwegs, da kommt sie mit dieser seltsamen Idee. Aber gut. Mehr Zeit für den Einkauf.
Erst wollte ich zum Edeka in Dreimühlen, dann fuhr ich doch zur Famila. Ob das gut war? Chicoree gab’s immer noch nicht, getrocknete Pfifferlinge auch nicht. An der Kasse dann der Beweis für die Montagsabergläubigkeit: Ich stelle aus dem Kasten eine einzelne Flasche Flens frei auf das Band – und die Flasche platzt. Einfach so. Der Rest geht dann gut.
Im Edeka in Dreimühlen gab’s auch keinen Chicoree, keine drüschen Pfifferlinge.
Auf dem Heimweg stelle ich dann fest, dass mein Finger blutet. Der Stinkefinger links. Offensichtlich habe ich mich an der Flasche verletzt. Auf der Suche nach einem Tempotaschentuch entdecke ich die allererste Corona-Maske. Ganz offensichtlich gebraucht. Die war noch handgenäht, damals gab’s ja nicht gleich von Anfang die FFP2-Masken in Apotheken und Supermärkten. Die allererste Corona-Maske stammte aus dem Geschenkeladen auf der anderen Seite der Hauptstraße hier in Winnert. Das waren noch Zeiten :)

Montag also. Schaun wir, wie er weitergeht.

[Kim] Der Anfang II

Kim soll ihre ersten anderthalb Jahre auf der Straße zugebracht haben. Sie muss mindestens einmal Junge bekommen haben, denn ihr Gesäuge war ausgeprägt (ausgeprägter zum Beispiel, als bei Naomi oder Susi). Der Tierarzt, der sie kastrierte, war vermutlich ein Metzger; kein vernünftiger Veterinär verpasst einer Hündin einen gut zwanzig Zentimeter langen Schnitt.

Und es war auf sie geschossen worden; in ihrem Körper steckten drei Diabolos (das ist Luftgewehrmunition), und einen davon hat sie mit in den Hundehimmel genommen, denn er saß zu nah an der Lunge, um herausoperiert zu werden; allerdings war die Kugel verkapselt, insofern ungefährlich.

Kim hatte ihre Baustellen. Sie mochte es nicht, am Hinterteil angefasst zu werden, jedenfalls anfangs. Von der Diabolo-Operation noch betäubt, nässte sie sich ein. Ich wollte ihr das Hinterteil mit einem Handtuch abtrocken, da schnappte sie im Halbdusel nach mir, erwischte den goldenen Ring meines Vaters und meinen Finger, der natürlich blutete. Ein wenig. Die Spur ihres Zahnes, der den Ring erwischte, ist noch da; ich werde sie auch nicht beseitigen lassen – das ist eine Erinnerung, nicht nur an Kim, sondern auch an meinen eigenen Fehler.

Es war nicht der einzige Fehler, den ich mit ihr machte. Wenn auch der blutigste. Als ich sie einmal auf dem Sofa sitzend in den Arm nehmen wollte, schnappte sie nach meinem Gesicht, erwischte mich aber nicht. Dass sie so reagiert, hätte ich mir denken können. Erst viele, viele Jahre später, 2022, um genau zu sein, ließ sie sich in den Arm nehmen, vor allem beim Tierarzt.

Der Fehler, der mir am intensivsten in Erinnerung bleiben wird, geschah beim Gassi gehen. Keine große Runde, in der Nachbarschaft, mehr nicht. Sie sollte nur noch einmal pieseln. Es regnete, ich hatte einen Schirm in der Hand (danach nie wieder beim Gassigang), in der anderen die Flexileine. Kim pieselte, die Flexileine – bzw. das schwere Gehäuse – rutschte mir aus der Hand, schoss auf den Hund zu, der panisch davon rannte, das verdammte Flexileinengehäuse immer hinter ihr her. Zum Glück blieb sie auf dem Gelände, auf dem wir wohnten, saß dann vor der Tür zum Haus, zitternd, ängstlich – und es gelang mir fast nicht, sie von der Tür wegzuziehen, um diese zu öffnen. Wie es danach weiterging, weiß ich nicht mehr – aber danach verschwand die Flexileine in der Versenkung und kam nie mehr zum Einsatz.

Kim im August 2012; da war sie freilich schon über ein Jahr bei uns.

[Kim] Der Anfang I

Die Erinnerungen verändern sich. Manche verblassen. Manche bleiben einem glasklar in Erinnerung. Und doch können sie täuschen. Ich vertraue ihnen nicht. Nicht immer. Aber die Details sind auch nicht wichtig. Nicht immer.

2011, im Frühjahr. Wir fuhren nach Odelzhausen, ein Ort westlich von München. Dort gab es einen Verein – irgendwas mit »vier Pfoten«; es gibt ihn nicht mehr, er wurde wegen illegalem Welpenhandel dichtgemacht, hieß es –, bei dem wir uns Hunde anschauen wollten. Beim ersten Besuch fanden wir nicht, was wir suchten. Nach den Erfahrungen mit meiner ersten Kim – einem Labrador-Airdale-Terrier-Mix – schwebte mir wieder so etwas vor. Ein Labbimix. Schwarz. Das war ein Muss. Die Hunde, die wir anschauen konnten, passten alle nicht.

Als wir wieder daheim waren, bekamen wir Fotos per E-Mail geschickt. Eine schwarze Hündin namens Gigi.

Kim, 2011. Damals hieß sie noch Gigi, und ihre später fast schwarzen Augen schimmerten braun.

Es war im Grunde sofort klar, dass sie unser Hund werden würde. Und als ich sie zum ersten Mal bei ihrem Namen rief, war klar, dass wir sie nicht Gigi nennen würden. Sie hieß Kim – wie ihre Vorgängerin. Das war ihr Name.

Als wir sie in Odelzhausen abholten, kam sie mir klein, fast ein wenig unscheinbar vor. Sie wirkte schüchtern, nahm ein Leckerli, aber sie wirkte irgendwie … verloren. Im Auto dann lag sie im Fußraum vor Frauchens Füßen und sie rührte sich nicht. An die eigentliche Heimkehr erinnere ich mich nicht mehr.

Die ersten Tage waren der Eingewöhnung gewidmet. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie nicht stubenrein gewesen wäre. Aber sie wollte nicht fressen. Ich kniete zehn Minuten lang mit einer gefüllten Schüssel vor ihr und wartete. Aber sie wollte nicht fressen. Erst nach einigen Tagen siegte der Hunger. Und danach kam es nie wieder vor, dass sie nicht fressen wollte. Bis sich das dem Ende zu wieder veränderte, aber da sind wir noch nicht.

An Details aus der Anfangszeit erinnere ich mich nicht. Wir hatten irgendwann einen Pflegehund, einen kleinen Brackenmix, den wir Paula nannten, weil ihr eigentlicher Name Kims Namen zu ähnlich war. Die beiden kamen gut miteinander klar, und nach zwei, drei Wochen verschwand Paula wieder, fand ein neues Zuhause irgendwo am Ammersee.

[Susi] Wenn zweie einen Gassi tun

Es ist wieder Zeit für lange Gassigänge. Vor allem, wenn Naomi beim Schwimmen ist. Dann kommt Susi ins Geschirr, an die Leine – und ab auf die Strecke. Heute waren es gleich mal anderthalb Stunden durchs Wilde Moor:

Gestartet wurde natürlich daheim, aber den Tracker habe ich erst hinter der Zimmerei Opitz eingeschaltet.

[Kim] Das Ende ist da oder »She’s dead, Jim«

Andrea, unsere Hundephysiotherapeutin, bei der Kim so oft schwimmen war – zuletzt am Tag ihres Todes –, meinte, dass Kims Blick leer geworden sei. Die Tierärztin, die abends dann bei uns war, stellte fest, dass Kim überhaupt nicht mehr wirklich reagierte. Sie lag da, in unserer Diele – das war der Raum mit dem meisten Platz drumherum –, regungslos fast.
Sie bekam eine Spritze zur Beruhigung, zum Einschlafen. Sie wirkte schnell. Die eigentlich tödliche Spritze Pentobarbital war ein Riesenteil und die Tierärztin versicherte uns, dass die Dosis reichte, um auch größere Hunde in den Hundehimmel zu schicken. Kim würde nicht leiden – und tat es auch nicht, denn nach nicht einmal drei Minuten hörte ihr Herz zu schlagen auf.

Es war vorbei.

Durch geöffnete Fenster ließen wir ihre kleine Seele gehen; das ist so ein Brauch, die Fenster zu öffnen. Wir ließen ihren Körper in der Diele liegen, damit Naomi und Susi Abschied nehmen konnten, was sie nicht wirklich taten, nicht so, wie wir das vielleicht erwartet hätten. Hunde machen das vermutlich einfach anders.
Für die Nacht legten wir sie in den Hauswirtschaftsraum, weil es dort kühl war.

Kim war gegangen, obwohl ihr Körper noch da war.

[Kim] Das Ende des Wegs in Sicht

Sie schlief immer mehr, immer länger.
Ihre Gassigänge wurden immer kürzer, am Ende waren es vielleicht noch hundert Meter, vielleicht hundertfünfzig. Oft fand sie den Weg aufs Grundstück nur deshalb, weil wir sie führten; und manchmal schien es, als wolle sie gar nicht zurück nach Hause.
Irgendwann lehnte sie das Nassfutter ab, von einem Tag auf den anderen. Danach bekam sie Trockenfutter, ein spezielles, weil sie Probleme mit Struvitsteinen in der Blase hatte. Und auch von diesem aß sie immer weniger, und das meiste davon musste man ihr regelrecht füttern.
Sie bekam Probleme beim Aufstehen. Weil unsere Böden glatt waren, hatten wir jede Menge Teppichläufer verlegt, aber sie fand fast zielsicher immer die glatten Stellen dazwischen.
Sie schien dement zu werden, obwohl das nicht sicher ist, denn sie schien uns nach wie vor zu erkennen. Aber sie war – nicht nur, aber vor allem nach dem Aufwachen – oft desorientiert. Sie stand dann irgendwo vor einer Wand, vor einem Möbelstück, in der Ecke an einer Tür auf der Seite, wo die Tür angeschlagen war. Sie wirkte, als wäre sie irgendwohin aufgebrochen und hätte dann vergessen, was sie dort wollte, wo sie überhaupt hin wollte.
Sie taumelte immer häufiger und vor allem ihre Hinterbeine knickten oft ein.
Sie wurde nicht im eigentlichen Sinne inkontinent, aber sie schaffte es öfter nicht mehr nach draußen, obwohl wir sie führten, und nachts weckte sie uns nicht mehr, was sie anfangs des Weges noch getan hatte. Unsere Teppichläufer gehören vermutlich zu den meistgewaschenen Teppichläufern Nordfrieslands.
Und auch ihr Häufchen kam immer öfter im Haus zur Welt. Fast so, als schien es den Würstchen draußen zu kalt zu sein.
Immer wieder führten wir sie nach draußen, damit sie sich erleichtern konnte, und immer wieder kam sie zurück und erledigte ihr Geschäft dann drinnen.

[Kim] Der Weg zur Regenbogenbrücke

Manche Hunde sterben schnell. Sie fallen einfach um oder schlafen ein und wachen nicht wieder auf. Aber das ist wohl nicht der Normalfall. Meist ist der Weg deutlich länger. Wobei man sich nicht täuschen lassen darf: Es gibt eine Rechenformel, nach der ein Lebensjahr eines Hundes sieben Menschenjahren entsprechen soll. Das ist natürlich eine Milchmädchenrechnung. Aber die Lebenserwartung von Hunden ist deutlich niedriger als die eines Menschen, und so verläuft ihr Leben entsprechend schneller.

Wir hatten viel Zeit, um uns vorzubereiten, auf das, was uns erwartete. Kims Weg zur Regenbogenbrücke begann 2021, im Spätsommer, Anfang des Herbstes. Es lässt sich nicht an akuten Kennzeichen festmachen, es waren Kleinigkeiten anfangs. Irgendwann begann sie Probleme zu haben, die Rampen hochzugehen, die wir für sie haben bauen lassen, zum Sofa, ins Bett, auf ihren Lieblingssessel von Ikea. Ihre Leistungsfähigkeit ließ nach, ihre Gassigänge wurden kürzer. Sie waren immer noch lang, aber nicht mehr so wie zuvor.
Wir trafen die Entscheidung, die wir längst im Kopf hatten. Es war klar, dass Naomi unter ihrer Trauer leiden würde, wenn Kim gehen würde. Es war also klar, dass wir vorher für einen weiteren Hund sorgen mussten, der Naomi von ihrer Trauer ablenken konnte. Das Ergebnis war Susi, die Mitte Oktober 2021 zu uns kam.
Kim ging es noch gut. Obwohl ich an ihrem zwölften Geburtstag am 11.11.2021 nicht sicher war, ob sie ihren dreizehnten noch erleben würde …
Aber Kim war ein ehemaliger Straßenhund, und sie war ein bisschen – stur. Auch wenn die Geschwindigkeit, mit der sie abbaute, für uns Menschen eher erschreckend war, dauerte es noch viele Monate. Sie erlebte sogar noch ihren dreizehnten Geburtstag.
Danach aber ging es wirklich sehr schnell …