Mark Hodder
DER KURIOSE FALL DES SPRING HEELED JACK
(The strange affair of Spring Heeled Jack, 2010)
Bastei Lübbe, Köln, März 2013, a. d. Engl.: Kristina Koblischke, Klappbroschur, 527 Seiten, ISBN 978 3 404 20699 5
VORBEMERKUNG
Nach der absolut beeindruckenden Lektüre von Chuck Wendigs »Blackbirds« hatte ich ein wenig Zweifel, ob das nächste Buch mich nicht wieder in den Keller des Geschmacks schießen würde. Aber ich sorgte mich völlig umsonst.
(Hinweis: In dieser Rezension besteht möglicherweise Spoilergefahr.)
WORUM GEHT ES?
Sir Richard Francis Burton leidet unter einem befleckten Ruf und einer zerstörten Karriere. Da ereilt ihn der Ruf der Krone, sich um besondere Angelegenheiten im Königreich zu kümmern – um die Machenschaften des »Spring Heeled Jack«, einer mysteriösen Gestalt, die aus dem Nichts auftaucht und in Selbigem wieder verschwindet. In einem seltsamen Anzug, unter einem von blauen Flammen umgebenen Helm, versehen mit einem funkensprühenden Herz auf der Brust, sich auf Federn und Stelzen fortbewegend, vergreift er sich nur an jungen Frauen, eigentlich sogar: jungen Mädchen.
Und dann gibt es da natürlich noch Intrigen, Widersacher, Feinde … Abenteuer …
WIE IST DER STIL?
Wunderschön. Die Geschichte, die im London der 1860er Jahre spielt – und plottechnisch bedingt Abstecher in die von da aus gesehen Vergangenheit wie auch Zukunft macht –, befleißigt sich eines angenehm modernen Stils, ohne den Fehler zu begehen, in den (pseudo-) viktorianischen Plot Modernismen reinzudrücken, die da nichts zu suchen haben. Dem Autor (und sicher auch der Übersetzerin) ist da ein schön ausgewogener Text gelungen, was die Präsentation angeht.
WAS GEFIEL NICHT?
Ein klein wenig hat mich zwischendurch gestört, dass es recht früh offensichtlich wurde, womit das Geheimnis des Spring Heeled Jack zu tun hat. Dass es dabei um Zeitreisen ging – wenn auch unter Bedingungen, die man sonst nicht so präsentiert bekommt –, war mir einfach zu früh klar. Letztlich aber konnte ich dem Autor das nicht übel nehmen, denn er hat trotzdem was draus gemacht …
WAS GEFIEL?
Der Stil, wie oben angedeutet.
Die Figurenzeichnung war schön. Der gebrochene Charakter von Sir Burton, einerseits erfolgreicher Forscher und Entdecker und angesehenes Mitglied der Society, andererseits getroffen von dubiosen Machenschaften gegen ihn, die Beschreibung als auch physiologisch monumentale Figur, das hatte was. Algernon Charles Swinburne, sein späterer »Dr. Watson«, setzte dem Gespann als Masochist aus Überzeugung einen schönen Glanzpunkt auf.
Und auch die Nebenfiguren sind gut gestaltet, nicht ganz so komplex, wie die Hauptfiguren, aber doch komplex genug, um ein Bild im Geiste entstehen zu lassen, das stimmig wirkt und stimmig bleibt.
Der Plot. Trotz seiner zu frühen Vorhersehbarkeit ist die Story nachgerade genial. Parallelweltgeschichten oder auch Geschichten aus dem Steampunk-Genre haben gerne – so weit ich sie kenne – den Anspruch, die Parallelität, den anderen Verlauf der Realität, wie wir sie kennen (oder zu kennen glauben), sei positiv, sei etwas Gutes, Wünschenswertes, Schönes.
In diesem Buch ist das anders, denn gemeinsam mit der Erkenntnis, dass wir es hier im Grunde mit einer Zeitreisegeschichte zu tun haben, erfasst einen auch das Wissen um die Motivation des Spring Heeled Jack, der sich aufgrund von Eingriffen – seinen eigenen? – in die Vergangenheit verantwortlich fühlt, das Ganze wieder »gerade zu biegen«, was ihm nicht nur nicht, sondern immer weniger gelingt. Der Spring Heeled Jack fühlt sich schuldig, dass Queen Victoria kurz nach ihrer Krönung bei einem Attentat ums Leben kommt, und …
Schön auch das daraus entstehende Paradoxon einer Geschichte aus einem viktorianischen Zeitalter (des 19. Jahrhunderts), das mangels einer Queen Victoria niemals eines werden konnte …
EIN PAAR ZITATE GEFÄLLIG?
Dann sah er etwas hinter Oliphants Schulter und entspannte sich plötzlich. Bewegungslos hing er herab. Irgendwie brachte er ein Lächeln zustande.
Oliphant starrte ihn verwundert an.
Eine tiefe, herrische Stimme erklang. »Lass ihn los.«
Der Albino fuhr herum.
Im Torbogen stand Sir Richard Francis Burton. Er hatte Oliphants Stock aufgehoben und hielt die gezogene Klinge in der Hand. Zu den Füßen des Entdeckers duckte sich ein kleiner Hund rückwärts Richtung Tür, schlüpfte hindurch und beäugte Oliphant aus sicherer Entfernung.
»Burton«, sagte der Albino tonlos.
Er ließ Swinburne los, der zu Boden fiel und leise lachend reglos liegenblieb.
»Komm her, du Bastard«, knurrte der Agent des Königs.
»Ich bin unbewaffnet«, verkündete Oliphant und trat mit ausgebreiteten Armen vor.
»Das kümmert mich nicht«
»Das ist aber nicht das Verhalten eines Gentlemans.«
»Nicht wenige sagen mir nach, kein Gentleman zu sein«, merkte Burton an. »Sie nennen mich Dick den Schläger. Und in diesem Moment gedenke ich, diesem Namen gerecht zu werden.«
Er sprang urplötzlich nach vorn und zielte mit dem Degen auf Oliphants Herz. Der katzenhafte Mann wand sich und sprang zurück, die Spitze der Klinge verfing sich in seinem Hemdsärmel und hinterließ einen Riss im Stoff.
»Ich bin zu schnell für dich, Burton«, keuchte er. Im nächsten Augenblick duckte er sich zu Boden, sprang nach vorn und hieb mit den Klauen nach dem Oberschenkel des Abenteurers.
Burton hatte die Bewegung vorausgesehen und packte die Hand des Albinos mitten im Schlag.
»Ich bin auch nicht ganz langsam«, bemerkte er lächelnd.
Er verstärkte den Griff. Knochen brachen.
Oliphant schrie.
Burton ließ den Degen fallen und rammte dem Albino eine Faust ins Gesicht.
»Und ich denke, du wirst einsehen, dass ich stärker bin.«
Während er mit der Linken erbarmungslos alle Knochen in Oliphants rechter Hand zermalmte, fuhr Burton fort, das Gesicht seines Gegners in eine breiige Masse zu verwandeln. Blut spritzte, als das Nasenbein des Katzenmannes nachgab und eingeebnet wurde. Reißzähne zersplitterten. Haut platzte auf.
Burton ging mit wissenschaftlicher Genauigkeit vor. Er ließ die Boxervergangenheit seiner Jugend wiederauferstehen, wählte das Ziel jeden Schlags mit kalter Berechnung, stimmte seine Hiebe zeitlich perfekt ab und bemaß den Schaden genau so, dass der Albino jeden knochenbrechenden Faustschlag miterlebte, ohne jedoch das Bewusstsein gänzlich zu verlieren.
Es war mehr als eine Strafe. Es war Folter, und Burton hatte keine Skrupel.
(Seite 313 f.)
Dieser Oliphant ist ein Altbekannter für Burton, allerdings nicht in Form dieses Albinocharakters, der durch eine genetische Manipulation mit den Genen eines weißen Leoparden zustande kam.
Trounce, der im Folgenden genannt wird, ist ein Scotland-Yard-Polizist, der dem Spring Heeled Jack schon lange auf der Spur war und dafür unter sehr zahlreichen Hänseleien und beruflichen Benachteiligungen zu leiden hatte:
Trounce ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus, um sich die Füße am Feuer zu wärmen. Er nahm die Zigarre, die sein Gastgeber ihm anbot.
»Sie schrieben, er hätte gesagt, sie sollten den – was war es noch – ›Tribut genießen‹?«
»Nein. Er sagte ›Genießen Sie Ihren Reboot‹. Ein seltsames Wort. Aber die Sprache ist ein wandelbares Wesen, alter Freund, sie folgt einer Entwicklung, die Darwins Evolution nicht unähnlich ist. Teile von ihr verlieren ihre Funktion und werden nicht mehr benutzt, während sich neue Formen ausbilden, um einen bestimmten Bedarf zu befriedigen. Ich zweifele nicht daran, dass ›Reboot‹ in der Zukunft eine besondere Bedeutung tragen wird. In seiner Zukunft zumindest.«
»Nun ja, die Botschaft ist immerhin klar«, sagte Swinburne. »Mit Sprache kenne ich mich aus. Sicher kommt es vom englischen Wort ›boot‹, dem Stiefel. Und ›re‹ bedeutet ›neu, wieder‹. Die alten Stiefel durch neue zu ersetzen ist, als mache man sich bereit für die nächste, potenziell gefährliche Reise. Deine alten Stiefel würden die Sache vielleicht nicht mehr mitmachen, also ziehst du neue an, bevor du losläufst. Wie wenn man ein Pferd neu beschlägt.«
»Die Erklärung scheint mir stimmig«, nickte Burton. »Und sie passt zum Kontext.«
(Seite 508 f.)
Ist das nicht niedlich? :)
Oxford, der im Folgenden erwähnt wird, ist der bürgerliche Name des Spring Heeled Jack.
»Das ist noch das Geringste. Wir haben die Ursache beseitigt, aber wir haben den Schaden nicht behoben. Tatsache ist, dass wir in einer Welt leben, die es nicht geben sollte. Oxford hat den Lauf der Geschichte verändert. Sein Auftauchen hat Wellen geschlagen, die weitreichende Konsequenzen hatten. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollte unsere Gegenwart das ›Viktorianische Zeitalter‹ heißen. Wenn Sie aufstehen und aus dem Fenster sehen, wird der Anblick nur entfernte Ähnlichkeit mit dem haben, was Sie sehen würden, wäre er niemals durch die Zeit zurückgereist.«
(Seite 511)
Am Ende geht Hodder noch auf die Figuren in unserer Realität ein, und zu Oscar Wilde – der in seinem Roman als Zeitungsjunge und Bote auftaucht – vermerkt er unter anderem den Sinnspruch Wildes:
»Indem er uns die Meinung der Ungebildeten verkauft, lässt uns der Journalismus die Ignoranz der Gesellschaft nie vergessen.«
(Seite 521)
ZU EMPFEHLEN?
Ja, sehr. Ich habe bislang zu wenig Steampunk gelesen, um ein Fan zu sein, auch wenn mich das, was ich bislang las, fasziniert hat. Ich würde dieses Buch auch nicht unbedingt unter Steampunk, jedenfalls aber unter Parallelwelt-SF einordnen. Und gleich, wer sich nun für was interessiert, es eignet sich für Fans beider Richtungen: Steampunk oder Parallelwelt-SF, und meiner Ansicht sogar noch darüber hinaus für jeden, der über genügend auch historisches Wissen verfügt, um an der Verdrehung unserer Realität Spaß und Vergnügen zu finden.