Immer wieder fantastisch

Corinna Griesbach (Hrsg.)
HALLER 8 – Ins Auge blicken
Literaturzeitschrift Haller, Monschau, Juni 2013, Taschenbuch, 196 Seiten, ISSN 1869-4624, www.literaturzeitschrift-haller.de

VORBEMERKUNG

Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich erinnere mich dumpf, über eine meiner eigenen Anthologien mit Corinna Griesbach in Kontakt gekommen zu sein. Als ich den HALLER damals kennenlernte, war das ein kleines Literaturstückchen mit Texten und Bildern und einem Umfang von gerade mal so um die 60 Seiten. Das Layout gefiel mir – und hatte schon mit der zweiten Ausgabe, die ich bekam, seinen Reiz verloren.
Seit der Ausgabe 4 habe ich das Layout übernommen, und mit jeder Ausgabe begann der HALLER erkennbar zu wachsen – nicht nur vom Umfang her. Aber die Nummer 7 war schon ein solcher Erfolg für Corinna Griesbach, das sie nicht nur die eigentliche Literaturzeitschrift mit einigermaßen »normalem« Umfang veröffentlichte, sondern wir gemeinsam in meinem Verlag auch ein Taschenbuch unter dem (gleichen) Titel »Verlassene Orte« https://www.pmachinery.de/unsere-bucher/auser-der-reihe/griesbach-corinna-hrsg-verlassene-orte-ein-haller-taschenbuch (wie das zugrunde liegende Projekt) herausbrachten: mit immerhin 212 Seiten Umfang.

Inzwischen ist die Ausgabe 8 erschienen – und die ehemals schmale Literaturzeitschrift HALLER liegt nun mit 196 Seiten Umfang vor. Noch immer mache ich das Layout, und diesmal habe ich mich entschieden, den HALLER auch einmal zu rezensieren, obwohl ich das mit Büchern, an denen ich beteiligt bin, sonst eigentlich nicht tue.

WORUM GEHT ES?

Der HALLER 8 steht unter dem Thema »Ins Auge blicken«. Das ist ein Thema, das einerseits recht eindeutig ist – oder scheint. Das andererseits auch sehr weit gefasste Interpretationen zulässt. Am sinnvollsten zitiere ich hier Corinna Griesbach aus ihrem Vorwort:
»Unsere Augen sprechen, sie sind Ausdruck unserer Seele. Sie lächeln, strahlen Freude aus, stimmen zu, fragen, lehnen ab, treffen und verletzen. Es gibt Liebesblicke, böse Blicke, erotische Blicke, penetrierende Blicke. Wir sehen der Wahrheit ins Auge – oder auch nicht. Das Gesicht vor uns ist blass oder schön, wir sehen es im Traum oder in der Realität. Wir schminken es, um zu täuschen. Wir beginnen den Flirt mit einem ersten Blick. Sehen hinüber – und schnell wieder weg. Wir werden klein unter vernichtenden Blicken. Blicke können töten – können sie?«

Die eingegangenen Geschichte haben das Thema eben durchaus weit gefasst interpretiert. Immer wieder – auch schon in vorherigen HALLER-Ausgaben – finden sich auch Geschichten mit fantastischem Einschlag oder gar Geschichten, die man zur Gänze dem fantastischen Genre zurechnen kann. Auf diese möchte ich mich hier konzentrieren.

WIE IST DER STIL?

Naturgemäß sehr unterschiedlich, aber qualitativ auf insgesamt sehr hohem Niveau.

Gleich die erste Geschichte, Susanne Goldmanns »Das Erbe«, entführt den Leser in ein fantastisch anmutendes Sujet. In einem viktorianisch wirkenden Plot wird die tragische Geschichte einer Familie erzählt, in der Menschen sterben und der Täter erfolgreich die Augen vor der Wahrheit verschließt. Wer der Täter ist, ist eigentlich naheliegend, aber die Geschichte kann stilistisch brillieren. – In Ralph Bruses »Das Auge« bietet der Autor großen Spielraum für die Fantasie des Lesers: Ist dieses Auge … was? Die Sonne? Ein Vulkan? Eine Atombombe? Was? Sehr gelungen. – Auch Gideon Gratias entwickelt in »In Bernhards Augen« ein fantastisches Sujet. Könnte man sagen. Immerhin hat es mit Bernhards Verkaufstalenten wohl etwas Besonderes auf sich. – Cindy Rudolfs »Kranichaugen« ist eine kurze Geschichte um die Augen von Kranichen: ein kleiner Traum mit bösem Ende. – Sabine Haupt stellt in »Wiederkehr« durchaus nachvollziehbare Überlegungen zur Lebensverlängerung mit kryonischen Hilfsmitteln an; keine wirkliche SF-Story, aber eine mit durchaus fantastischen Elementen. – In Daniel Mylows »Irgendwo in der Nacht« spielen Sterne eine große Rolle. – Sabine Frambachs »Farbenblind« ist ein schönes, kleines Stück über schwindende Sehfähigkeit. Hier fiel mir spontan ein, wie gut sich der Text als Grundlage für einen fantastisch – oder vielleicht besser noch surrealistisch – angehauchten Kurzfilm eignen würde. – Dominik Rau lieferte mit »Abendbegegnungen« die in meinen Augen beste Geschichte, in der es über die (offensichtlicher werdenden) Diskrepanzen zwischen dem, was wir als Realität betrachten, und dem, was die Realität wirklich ist, geht. Als alten »Dark Star«-Fan begeisterte mich der rundherum gelungene Text zur Frage, ob das, was wir sehen, wirklich real ist, sehr. Auch Matthias Hockmann nimmt sich später in »Cameron Obscura« der Thematik der Schnittstelle Auge zwischen Mensch und Realität an, natürlich anders als Dominik Rau. – Jennifer Anders »Tanz in den Tod« ist womöglich eher eine kleine Horrorgeschichte über eine Frau, die ihrem Schicksal ins Auge blickt, aber ein fantastisches Element lässt sich nicht abstreiten. – In »Die Weisheit des Verrückten« verarbeitet Jennifer Schaffrath einen Plot, den Fans des Fantastischen schon aus vielen literarischen und cineastischen Verarbeitungen kennen. Sie gewinnt dabei keine neuen Erkenntnisse, findet keine neuen Werkzeuge, sie vermeidet auch nicht die allzu schnell herannahende Vorhersehbarkeit des Endes, aber der Text ist stilistisch sehr gelungen. – Auch wenn Andrea Lauers »Schneewittchens Sargdeckel« eher ein Stück Grusel, fast schon echter Horror ist, ergäbe die Geschichte große Möglichkeiten für den Einsatz fantastischer Elemente, würde man sie zu einem Kurzfilm aufwerten. – Martin Beckmanns »Die Geisterkreuzung« ist eine klassische Gruselgeschichte.

Die vollständige Liste der Storys sei nicht vorenthalten:

Susanne Goldmann: Das Erbe
Regina Schleheck: Ins Auge
Ralph Bruse: Das Auge
Gideon Gratias: In Bernhards Augen
Cindy Rudolf: Kranichaugen
Bettina Schlemmer: Ich komme wieder. Im nächsten Winter
Sabine Haupt: Wiederkehr
Margret Kricheldorf: ER
Ruth Möbius-Hanssen: Nur einen Augenblick
Daniel Mylow: Irgendwo in der Nach
Jessica Nieber: Die Lebenslüge
Doris Bewernitz: Guck mich an
Sonja Schlegl: Katzenaugen
Paula-Sophie Brink: Ein Leben
Sabine Frambach: Farbenblind
Dominik Rau: Abendbegegnungen
Ramona Kuisel: Zugphilosophie
Jennifer Ander: Tanz in den Tod
Vincent Rudolf: Im Auge des Sturms
Salvatore Di Franco: Die Gehilfen
Jochen Stüsser-Simpson: Werner – oder die Gewalt der Rede
Jennifer Schaffrath: Die Weisheit des Verrückten
Matthias Hockmann: Cameron Obscura
Katrin Holle: Blutige Gier
Peter Schwendele: Der Deal
Andrea Lauer: Schneewittchens Sargdeckel
Manfred Müller: Der Wahrheit ins Auge blicken. Eine erkenntnistheoretische Anekdote
Martin Beckmann: Die Geisterkreuzung. Nach einer Sage aus dem hannoverschen Wendland
Janna Conrad: Der pensionierte Datenschützer
Peter Schnell: Der Augenblick der Muse
Anna Straetmans: Augenesser

WAS GEFIEL NICHT?

Nichts.

WAS GEFIEL?

Die gelungene Zusammenstellung und die allermeisten der Geschichten. Insgesamt befindet sich die Sammlung auf einem ausgesprochen hohen Qualitätsniveau, sie ist abwechslungsreich, nicht nur stilistisch, sondern auch hinsichtlich der Ideen, die Themenvorgabe umzusetzen.

ZU EMPFEHLEN?

Ja. Unbedingt. Nicht nur, aber natürlich vor allem auch für Fans von Anthologien.

NOCH WAS?

Das Literaturmagazin HALLER gibt es direkt bei der Herausgeberin Corinna Griesbach, am besten per Email unter info@literaturzeitschrift-haller.de. Kostenpunkt sind 5 Euro.
Unter https://vimeo.com/maxzachner/haller8 gibt es übrigens noch einen hübschen Videotrailer zum HALLER 8. Sehenswert.

Kommentare sind geschlossen.