Unverständlich

David Mitchell
DER WOLKENATLAS
(Cloud Atlas, 2004)
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Sonderausgabe November 2012 (»Das Buch zum Film ›Cloud Atlas‹«), aus dem Englischen: Volker Oldenburg, Taschenbuch, 668 Seiten, ISBN 978 3 499 24141 3

VORBEMERKUNG
Ich habe den Film gesehen. Zwei Mal. Und ich habe ihn nicht verstanden. Ich habe nun auch das Buch gelesen. Und ich glaube, ich habe auch das Buch nicht verstanden.
(Noch ein Hinweis: Es ist nicht auszuschließen, dass in dieser Besprechung gespoilert wird. Wer den Film noch nicht kennt oder das Buch noch lesen möchte, sollte diese Besprechung vielleicht nicht lesen.)

WORUM GEHT ES?
Das ist eben die Frage. »Alles ist verbunden« steht auf der Rückseite des Buches, und in der Tat sind die verschiedenen Geschichten aus verschiedenen Handlungszeiten irgendwie miteinander verbunden. Aber wie?
Das Buch besteht aus sechs Geschichten, von denen fünf Storys geteilt sind. Das Ganze ist quasi wie ein Berg aufgebaut. Die Geschichte, die den Anfang macht, ist auch die, die das Buch zu Ende führt.

»Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing« macht den Anfang und mir denselben sehr schwer. Ich fand diesen Teil langweilig. Die Handlungszeit ist das 19. Jahrhundert. Es geht um die Fahrt eines Schiffes aus der Südsee zurück in die Vereinigten Staaten, um Moriori und deren Niedergang durch die Maori, und um die Erlebnisse des an einem »Wurm« erkrankten Adam Ewing auf diesem Schiff und dieser Reise. Am Ende stellt sich heraus, dass ausgerechnet der Arzt, Ewings vermeintlicher Vertrauter, derjenige ist, der für seinen üblen Gesundheitszustand verantwortlich ist. Die Sprache ist antiquiert, aber leserlich. Tagebücher indes waren noch nie meine Sache. Während der Lektüre dieses Teils habe ich mehrfach überlegt, den Versuch, das Buch zu lesen und vielleicht – besser als den Film – zu verstehen, aufzugeben.
Das »Pacifiktagebuch« taucht ganz kurz in einer Erwähnung im nächsten Teil, »Briefe aus Zedelghem« auf. Dort sind es Briefe eines Robert Frobisher an einen (Rufus?) Sixsmith (Frobisher benutzt immer nur den Nachnamen). Frobisher ist Musiker und Komponist und aus England nach Belgien geflohen, um seinen Gläubigern zu entgehen. In Belgien bemüht er sich erfolgreich um eine Anstellung bei einem anderen, bekannteren Komponisten, und lässt auch – nicht ganz untragische – Frauengeschichten nicht aus. Nebenbei befleißigt er sich anscheinend auch des Diebstahls, indem er wertvolle Werke aus der Bibliothek seines Arbeitgebers veräußert, um sein Leben zu finanzieren. Seine »Frauengeschichten« – vor allem die irrtümliche Annahme der Liebe der Tochter seines Arbeitgebers – sind es am Ende, die Frobisher in den Selbstmord treiben, den er in einem letzten Brief an Sixsmith ankündigt.
Rufus Sixsmith taucht dann in »Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall« als Figur auf, und zwar als dann deutlich in die Jahre gekommener Wissenschaftler, dessen Aufzeichnungen technischer Probleme einer Atomanlage zu seinem Tod und der Journalistin Luisa Reys erstem Fall führen. Auch die Briefe von Frobisher spielen noch eine Rolle, ganz am Ende, nachdem die eigentliche Geschichte für Luisa und die Gerechtigkeit in der Welt einen guten Ausgang genommen hat.
Die »Halbwertszeiten« wiederum entpuppen sich in »Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish« als ein Romanmanuskript, das Cavendish, Verleger auf der Flucht vor seinen Gläubigern (sic!), in Händen hält, ohne so recht zu wissen, ob es sich zu lesen, geschweige denn zu veröffentlichen lohnt. Im zweiten Teil der Geschichte landet er schließlich in einer geschlossenen Anstalt, aus der er gemeinsam mit weiteren Insassen erfolgreich, wenn auch nicht ganz ohne Komplikationen entfliehen kann.
In »Sonmis Oratio« finden wir ein Interview zwischen einem Archivar und einem Klon vor. Der Klon gehört den Sonmis genannten Klonen an – es gibt unterschiedliche Gruppen – und arbeitete als Bedienerin bei »Papa Song«, einer Art Burger King oder McDonald’s in der Zukunft. Die zukünftige Gesellschaft, deren Aspekte in dem Interview durchschimmern, ist komplex und doch recht einfach: Die Welt ist unter den Konzernen aufgeteilt, die Arbeiten werden von Klonen erledigt, die nur eine begrenzte Lebensdauer haben und jenseits ihrer Aufgaben über praktisch keinen Intellekt verfügen. Allerdings gibt es Ausnahmen – und es gibt eine Opposition, die sich diese Entwicklungen zunutze machen möchte, um die Macht der sogenannten »Eintracht« zu brechen. Der Zusammenhang dieser Geschichte zu einer der vorherigen ist mir nicht aufgefallen.
Der Name »Sonmis« findet sich in der mittleren und einzigen ungeteilten Geschichte »Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging«. Es geht um Zachry, einen Jungen, und Meronym, eine Prescient, die Zeit auf Zachrys Heimatinsel – eine Insel, die, wie ich vermute, zum heutigen Hawaii gehört (der Name »Ha-Why« ist zu lesen) – verbringt, um das Leben der Eingeborenen und diese selbst kennenzulernen. – Diese Geschichte hat mich einerseits ebenso gelangweilt, wie das Ewingsche Tagebuch, andererseits aber bei der Stange gehalten, weil ich versuchte, durch die Andeutungen, die verfälschten Namen und den eigentlichen Sinn der Geschichte durchzusteigen. Gelungen ist es mir vermutlich nicht. Klar wurde mir nur, dass die Geschichte eine Endzeitgeschichte darstellen dürfte: die Prescient – der Begriff wird nicht erläutert – stehen kulturell und technisch ein wenig höher als die Inselbewohner »Ha-Whys«, und es wird der Anschein erweckt, dass auch die noch lebenden Prescient und die Inselbewohner aussterben, nicht nur aufgrund von Umweltbedingungen, sondern auch durch das eigene Verhalten – das Inselvolk der Kona hinterlässt auf den Inseln recht blutige Spuren. – Die Sprache, abgeschliffen, mit zahllosen Verfremdungen gegenüber unseren heutigen Begriffen – vor allem bei Namen von Orten, Inseln, Gegenden, auch Völkern –, ist sehr anstrengend zu lesen und erschwert die denkbare Faszination dieses Teils. Unklar bleibt auch, wo hier der Zusammenhang mit den restlichen Geschichten zu suchen ist. Das Auftauchen des Begriffs »Sonmis« als Göttin von Zachrys Inselvolk wird nicht erklärt und bleibt völlig unklar, zumal sich auch sonst keinerlei Verbindungen zur Welt aus »Sonmis Oratio« finden.

WAS GEFIEL?
Die Idee, auch wenn ich sie nicht wirklich gut umgesetzt finde. Verschiedene Handlungszeiten, verschiedene Figuren, verschiedene Erzählstile und Darreichungsformen (Tagebuch, Briefe, Interview), das alles miteinander zu kombinieren und vor allem miteinander zu verbinden, das hat schon was. Aber Mitchells Buch hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, als sei diese »Zusammenstellung« wirklich gewollt, sondern eher sogar noch zufällig entstanden. Oder – schlimmer noch: – nicht nur ungeplant, sondern auch unorganisiert. Anderenfalls wären die Verbindungen – und es heißt ja »Alles ist verbunden« – deutlicher und »fester«, »haltbarer« gewesen.
Von der Handlung her, vom Erzählstil und vom Genre her haben mir »Halbwertszeiten« und »Sonmis Oratio« am besten gefallen – mit großem Abstand.

WAS GEFIEL NICHT?
Wie gesagt, die Umsetzung der Grundidee hat mir nicht gefallen. Und bei den Geschichten hätte ich mir »Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing« und »Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging« gespart, wenn ich vorher gewusst hätte, dass mir diese Teile nicht gefallen würden.

ZU EMPFEHLEN?
Nun, Mitchells Buch gilt als »Weltliteratur«, so schrieb es jedenfalls die Neue Zürcher Zeitung (siehe Buchrückseite). Und möglicherweise lässt auch die Verfilmung Hinweise darauf zu, dass es sich um ein wertvolles Stück Literatur handeln könnte.
Aber empfehlen kann ich das Buch nicht.

NOCH WAS?
Denn am Ende steht für mich eines fest: Ebenso, wie ich den Film nicht verstanden habe, habe ich auch das Buch nicht verstanden. Nicht wirklich. Nicht annähernd.

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