Erst Känguru. Später Pinguin

Marc-Uwe Kling
DIE KÄNGURU CHRONIKEN: Ansichten eines vorlauten Beuteltiers
Ullstein Buchverlage, Berlin, 2009, eBook, eISBN 978 3 548 92077 1

VORBEMERKUNG
Kling kam mir zuerst im Fernsehen unter die Augen. Auffallend war seine offensichtliche Verbindung zur Poetry-Slam-Szene, erkennbar an der Tatsache, dass er in seinen Auftritten aus seinen Känguru-Büchern vorlas, erkennbar auch an der monotonen Sprechweise mit wenigen, dafür aber umso auffälligeren Betonungen. Tatsächlich war Kling 2006 und 2007 deutscher Poetry-Slam-Meister. Immerhin.

WORUM GEHT ES?
Kling ist der Ich-Erzähler, Kleinkünstler – eine Bezeichnung, die er gar nicht mag – und Bewohner einer Wohnung, die er sich mit einem Känguru mit marxistischen und anderen seltsamen Ansichten teilt. Die zahlreichen, recht kurzen Episoden beleuchten die allerunterschiedlichsten Aspekte eines solchen Zusammenlebens, von Ansichten und Macken des Kleinkünstlers wie auch Macken und Ansichten des Kängurus.

WIE IST DER STIL?
Amüsant. Locker. Flockig. Wenig aufgeregt.

WAS GEFIEL NICHT?
Hm. Es gibt einen Punkt, der mich störte, aber ihn als »nicht gefallend« einzustufen, wäre zu viel. Siehe deshalb unter »Noch was?«.

WAS GEFIEL?
Der Stil. Die Ideen. Der Wort- und Situationswitz.

EIN PAAR ZITATE GEFÄLLIG?

Neun Uhr

»Alter …«, sage ich zum Känguru. »Alter … Alter … Alter …«
»Was denn?«, fragt das Känguru.
»Ich weiß auch nicht«, sage ich.
»Hm«, sagt das Känguru.
»So kann’s doch nicht weitergehen«, sage ich.
»Nä«, sagt das Känguru.
Es läuft in einem Kreis um mich herum.
»Warum liegste denn auf dem Boden?«, fragt es schließlich.
»Kann mich nicht mehr bewegen«, sage ich.
Das Känguru bleibt stehen.
»Rückenschmerzen!«, sage ich und versuche den Kopf leicht anzuheben, um das Känguru besser sehen zu können. Geht nicht.
»Wirst alt, was?«, fragt das Känguru scherzhaft.
»Sag das nicht!«, rufe ich. »Ich bin wie Peter Pan! Ich werde niemals alt werden müssen.«
Zum Beweis will ich mich schwungvoll aufsetzen, aber der Schmerz reißt mich zurück.
»Komm mal näher«, sage ich. »Ich kann meinen Kopf nicht bewegen. Ich seh dich gar nicht.«
Das Känguru schlurft zwei Schritte heran, und sein Kängurukopf schiebt sich langsam von oben in mein Sichtfeld.
»Immer öfter, wenn ich die Treppe zu uns hochlaufe, freue ich mich darüber, dass die ein Geländer hat«, stöhne ich.
Das Känguru nickt.
»Und das letzte Mal, als wir ’ne Nacht durchgezecht haben, bin ich morgens aufgewacht und musste erst mal auf die Uhr kucken, um zu wissen, ob ich noch müde bin.«
»Auweia«, sagt das Känguru.
»Es war neun Uhr«, sage ich dramatisch.
»Und?«
»In letzter Zeit ist es immer neun Uhr! Egal wann ich ins Bett gehe … Ich wache auf: neun Uhr.«
»Das ist beängstigend«, sagt das Känguru.
»Mein Vater wacht jeden morgen um halb sechs auf«, sage ich verzweifelt.
»Wäre es okay für dich, wenn ich jetzt schon eine Annonce für dein Zimmer schalte?«, fragt das Känguru. »Ich kann es mir gerade nicht leisten, die komplette Miete allein zu bezahlen – selbst für eine kurze Zeit.«
»Haha. Warte nur, bis sie dir mal künstliche Sprunggelenke einsetzen, dann reden wir weiter«, sage ich und schreie noch mal vor Schmerzen, als mich das Känguru prüfend mit seinem Bein anstupst.
»Ey! Lass das!«, sage ich.
»Hm«, sagt das Känguru.
»Hilf mir lieber«, sage ich.
»Was denn?«
»Gib mir mal den Papierkram, der auf meinem Schreibtisch liegt. Und mein Notizbuch. Ich hab ’ne Idee für ein Lied. Ich nenn’s Zug der Opportunisten.«
»Was’n das?«, fragt das Känguru und kuckt den Papierkram durch. »Da steht FDP drauf …«
»Ich war gerade in der Müllerstraße, auf dem Müllerstraßenfest …«, erkläre ich.
»Klingt spannend.«
»Ist fast so spannend wie der Name. Jedenfalls gab es da so einen Stand von den Jungen Liberalen«, erzähle ich unter Schmerzen. »Kennste die? Die Jugend der FDP, die gruseln mich immer ganz besonders.«
»’ne Jugend von so was …«, sagt das Känguru kopfschüttelnd.
»Total abgefahren, oder?«
»Ich mein – wenn man so anfängt …«, sagt das Känguru. »Wo soll das noch hinführen …«
»Genau. Diese Leute möchte man ja nicht mit fünfzig oder sechzig treffen.«
»Ich hab einen von denen auf dieser Poolparty getroffen«, sagt das Känguru. »Dann ist der mir tatsächlich mit diesem ollen, doofen Spruch gekommen, von wegen, äh …«
»Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit dreißig noch Kommunist ist, hat keinen Verstand?«, frage ich.
»Genau!«, sagt das Känguru. »Und dann hab ich ihn gefragt, was er mir damit sagen will. Dass er kein Herz hat?«
»Hehe. Gut gekontert«, sage ich.
»Hat er aber nicht kapiert«, sagt das Känguru.
»Aber jedenfalls, ist doch auffällig, dass viele Leute mit dem Alter immer konservativer werden. Weißte? So Otto Schily, Joschka Fischer oder … oder … Horst Mahler. Die Riege nur als prominentes Beispiel. Woran liegt das?«
»Das ist ein ganz natürlicher Vorgang«, sagt das Känguru. »Mit dem Alter sterben ja bekanntermaßen immer mehr Körperzellen ab. Warum sollten ausgerechnet die Gehirnzellen eine Ausnahme darstellen?«
»Ich hab Angst«, sage ich, und die Rückenschmerzen drücken meine Augen aus den Höhlen. »Plötzlich biste fünfzig und glaubst, dass die unsichtbare Hand schon für den Wohlstand der Nationen sorgen wird …«
»Ach«, sagt das Känguru. »Natürlich geht es mit dem Alter bergab. Aber es ist ja auch die Frage, von wo man losläuft, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich nicke vorsichtig, muss die Bewegung aber sofort wieder einstellen.
»So einer wie Horst Mahler, der stand ja nie auf ’nem großen Hügel. Und dann hat der auch noch ’nen Expresszug ins Tal genommen«, sagt das Känguru. »Beziehungsweise in ’ne Schlucht. In den Marianengraben, könnte man sagen.«
»Mhm.«
»Außerdem haste ja noch mich«, sagt das Känguru.
»Bleibste bei mir?«, frage ich.
Das Känguru nickt.
»Auch wenn ich alt und grau und gebrechlich und blöd werde?«
»Na logen.«
»Suchst dir keinen neuen Mitbewohner?«
»Quatsch.«
»Das haste nur aus Spaß gesagt, nich?«
»War nur Spaß.«
»Bleibst also bei mir.«
»Na klar, Alter.«
»Sag nicht Alter zu mir.«
»Is gut.«
»Und jetzt ruf einen Arzt.«

»Ich sag mal so«, sagt das Känguru. »Ich glaube, dass der, der an die wildesten Verschwörungstheorien glaubt, näher an der Wahrheit ist als der, der glaubt, dass alles in Ordnung ist. Haben Sie schon mal nachgerechnet, was 23×23 gibt? 666!«
(aus: »Folge 23«)

ZU EMPFEHLEN?
Ja. Sehr.

NOCH WAS?
Ja. Das, was ich oben andeutete. Möglicherweise ging es nur mir so. Beurteilen kann ich es mangels Vergleichsmöglichkeiten nicht; meine Frau hat sich das Buch als von Kling selbst gelesenes Hörbuch gegönnt. Aber mir ist beim Lesen mit fortschreitendem Umfang des Lesepensums mehr und mehr aufgefallen, dass die Lektüre der kleinen, schnellen Geschichtchen anstrengend wird und sie an Amüsement verlieren. Deshalb sei als Tipp mit auf den Weg gegeben, sich immer nur drei, vier, vielleicht fünf Stück der kleinen Geschichten in einem Zug anzutun, dann eine Pause einzulegen. Ich denke, das gereicht dem Gesamteindruck zum Vorteil.

One Reply to “Erst Känguru. Später Pinguin”

  1. Doch, doch, Du hast Recht mit „Noch was?“. Ich höre das ja regelmäßig im Radio.
    Mehr als eine Folge will man gar nicht mitbekommen.
    :)
    Es sind ja auch nicht immer Pointen-Geschichten, oft endet der Dialog frei in der Luft schwebend.
    (Falschpost im anderen Thread, sorry)