Ameisenficken auf hohem Niveau

Ronald M. Hahn, Frank Hebben, Michael K. Iwoleit (Hrsg.)
NOVA 17
Das Magazin für Science Fiction & Spekulation
Wuppertal, Dezember 2010, Paperback, 231 Seiten, ISSN 1864-2829

VORBEMERKUNG
Mein zweites NOVA. Und ich kann vorweg verraten, dass mir die 17 deutlich besser gefallen hat, als die Nummer 16. Deutlich. – Was mir weniger gefällt, sind – natürlich – Ameisenfickereien. Inzwischen hat NOVA jedenfalls nicht mal mehr einen Verlag. Da steht nur noch eine »Gesamtredaktion und Vertrieb« im Impressum zur Verfügung (Ronald M. Hahn), sonst nichts. Dass das die Grundanforderung des – in diesem Falle – nordrhein-westfälischen Presserechts –, das sich von anderen Bundesländervarianten in der Frage nicht unterscheidet –, scheint hier niemanden zu stören. Nun gut.

WORUM GEHT ES?
Um die NOVA-übliche Mischung: neun Storys, zwei Artikel, ein Nachruf, Illustrationen.

WIE IST DER STIL?
Gehoben. Keine der Storys war wirklich schlecht; die allermeisten haben mir gar hervorragend gemundet.

WAS GEFIEL NICHT?
Der Artikel von Volker Wittmann, »Die Suche nach außerirdischer Dummheit«. Der Artikel strotzt vor Andeutungen, nicht ausgearbeiteten Behauptungen, von einer wirklichen Argumentation erkennt man allenfalls einen schwachen Hauch. Und eine Behauptung wie die, dass in Deutschland »rund neunzig Prozent der öffentlichen Mittel aus der Lohn- und Einkommensteuer fließen« (Seite 213), ist schlicht dumm. Womit wohl immerhin eine Dummheit gefunden worden wäre. – Man erkennt zwar, wo der Autor argumentativ eigentlich hin will; am Ende kann man es auch lesen. Aber der textliche Weg dahin taugt nichts.
Das Korrektorat. Es geht aus dem Impressum nicht klar hervor – wie auch, man kann nach und nach wohl froh sein, dass es überhaupt eines gibt –, wer sich alles mit den Korrekturlesungen der Beiträge beschäftigt, aber es sind erkennbar mehrere Personen. Und mindestens einer ist dabei, der tippfehlerblind ist, der selbst einfache grammatikalische Unsauberkeiten nicht erkennt, und der Kommas möglicherweise als Tonerverschwendung erachtet. Das ist im Falle der Gaststory »Ultramarine!« von Aleksandar Ziljak (Kroatien) nicht nur ärgerlich, sondern ein wirklich jämmerliches Bild. (Ich hatte mich diesbzgl. schon zu NOVA 16 entsprechend echauffiert und kann dies hier nur wiederholen: Profis wie den Herren Hahn, Hebben und Iwoleit steht das gar nicht gut!)
Ein paar Beispiele habe ich mir markiert:

  • In Uwe Posts »Bikepunks« wird gleich auf der ersten Seite (Seite 8 der Ausgabe) ein »feindlicher Wamst« durchbohrt. Grundsätzlich ist Uwe eine Wortschöpfung zuzutrauen, jedoch sind diese nach meinem Dafürhalten intelligenter. Dieser »Wamst« ist ein Tippfehler, der nicht korrigiert wurde. Obwohl es gleich ist, ob ein »Wams« oder ein »Wanst« durchbohrt wurde.
  • In Florian Hellers »Der Folterknecht« fallen gleich drei Zeilen (auf Seite 45) auf:

»Informations- und Meinungsgau«, antwortete der Folterknecht in auswendig gelernter Schulkindmanier.
»Nennen Sie es ruhig Supergau.«
»Supergau.«

Dazu sind zwei Dinge zu bemerken.
Zum einen ist ein »Gau« (lt. Wikipedia) »die Bezeichnung für eine landschaftlich geschlossene und von natürlichen Grenzen bestimmte politische Siedlungsgemeinschaft der Germanen. Das Wort diente und dient bis heute als allgemeine Bezeichnung von Regionen als Landschaft oder Verwaltungseinheit«. Was der – unkorrigierte – Autor wirklich meinte, ist ein »GAU«, was wiederum eine Abkürzung für zweierlei ist: einerseits – und hier erkennbar nicht gemeint – für eine »gun aircraft unit«, die Bordwaffe bei Flugzeugen und Helikoptern der US Air Force; andererseits der »größte anzunehmende Unfall« in Kernkraftwerken (und in der Tat wird diese Abkürzung auch nur in diesem Zusammenhang – mit »größten anzunehmenden Unfällen« in Kernkraftwerken – verwendet). – Es sei dem Autoren gegönnt, durch die Nutzung dieser Abkürzung etwas auszudrücken, das einem Leser, in dessen Erinnerung sich Tschernobyl 1986 noch nicht zur Nichterinnerung verdünnt hat, klar vor Augen führt, worum es geht. Jedoch sollte sich ein Korrektor dann wenigstens der Korrektur zur erkennbar richtig(er)en Schreibweise bemüßigt fühlen, die zu einem »Informations- und MeinungsGAU« oder besser noch »Informations- und Meinungs-GAU« geführt hätte. – Die Verwendung des »Super-GAU« – egal in welcher Schreibweise – ist im Übrigen exklusiv dem Autor vorzuwerfen, dessen Privat-PKW mit vier Auspuffrohren und drei Pommestheken am Heck vermutlich im heimischen Straßenverkehr auch einen »supergrößten anzunehmenden Unfall« darstellt.
Zum anderen macht es übrigens einen Unterschied, ob so ein Folterknecht etwas »in auswendig gelernter Schulkindmanier« sagt, oder ob er es »in Schulkindmanier auswendig gelernt« hat.

  • In Michael K. Iwoleits »Die Schwelle« findet sich auf Seite 96 ein ganz wundervoll getrenntes Beleuchtungsgerät: die »Barsch-lampe«. Auch der »Blootooth-Hub« auf Seite 112 kam mir spanisch genug vor, um zu prüfen, ob er noch einmal auftrat: tat er aber nicht, alle anderen Erwähnungen waren »blau«.
  • Und dann die Fehler in Ziljaks »Ultramarine!«:

Seite 130: »Ich verstoße täglich gegen dagegen.« Ja, das mache ich auch täglich.
Seite 132: »Heute verstehe ich was mir damit sagen wollte.« Wer war’s? Vielleicht das fehlende Komma?
Seite 137: »Ich stand in der Schlange zur Sterilisierung vor dem Eingang zum ersten Schiff das Wistary verlassen würde.« Neben dem mindestens einen Komma, das da fehlt, halte ich eine Sterilisation noch immer für eine Sterilisation, auch dann, wenn einem dabei nicht die Eier abgeschnitten werden.
Seite 166: »Sobald man diesen japanischen Garten betritt und die Scheinwerfer Korallen erleuchten, die Gorgonien, riesigen Seesterne, Tiger Muränen zwischen den schwarzen Felsen … […]«. Mit ein wenig Nachdenken kommt man darauf, dass zwischen »Tiger Muränen« kein Komma fehlt, sondern möglicherweise nur ein Bindestrich, beliebt bei Leuten, die lieber »Tiger-Muräne«, statt – lt. Duden korrekter – »Tigermuräne« schreiben wollen.
Seite 170: »Also stachen wir in jenem Sommer von Port Suslov aus in See, um sich unserem Schicksal zu stellen.« Wat is?

Und das sind nur die schmerzhaftesten Beispiele aus dieser Story, ausgerechnet einer der beiden in meinen Augen besten Storys in diesem NOVA. Mir passieren bei meinen Korrekturen auch Fehler; aber das hier ist einfach nur Schlamperei, zumal in dieser Geschichte zu solchen sinnentstellenden Fehlern auch noch zuhauf fehlende Kommas kommen. Das ist einfach nicht akzeptabel.

  • Zu diesen Schlampereien gehört übrigens auch, dass Sven Klöppings Story »Gothic Lovers« sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch auf der Buchrückseite nur als »Gothic Love« betitelt wird.

WAS GEFIEL?
Die Geschichten, wie erwähnt.

  • Uwe Post, Bikepunks: Eine sehr schöne Endzeitgeschichte, nach dem sittsam bekannten Untergang der Zivilisation, in der radlfahrende Jungs eine in schweren Zeiten bedeutende Institution am Leben erhalten. – Der Vergleich ist vielleicht unpassend, aber ich kenne Frank Böhmert und seine Werke wesentlich länger als die von Uwe Post, und diese Geschichte hat mich an Frank Böhmerts Geschichten erinnert. Nicht an alle, aber an einige. Einschlägige. Immerhin: 9 von 10 Punkten.
  • Florian Heller, Der Folterknecht: Wenn es eine optimale Kombination zwischen schöner Stimmung und bösem Sarkasmus gibt, dann ist es in dieser Geschichte gelungen, in der ein Folterknecht einen Kunden »verarztet« und dabei nicht ganz ungehindert vorgehen kann. Nur an einer Stelle wird direkt und eindeutig auf die Gesellschaft, die hinter des Folterknechts Geschäften steht, eingegangen, und diese Stelle ist so unauffällig und elegant in den gesamten Text hineinformuliert, dass sie einem praktisch nicht auffällt, dass sie fast wirkt, als sei sie nicht wichtig. – Die Sprache der Geschichte ist nahezu unvergleichlich, sie hat mich wie keine Geschichte seit langer Zeit völlig in den Bann gezogen. Wenn ich könnte, würde ich sagen: 11 von 10 Punkten. Die beste Geschichte im Band.
  • Arno Behrend, Im Blitzlichtgewitter: Ein schönes Stück, thematisch einem Journalisten wie Arno mehr als angemessen. Es geht nicht nur um einen erblindeten Fotografen, sondern auch um die Historie der (britischen) Royals nach Elisabeth II. Fein. – Man könnte sich vielleicht darüber streiten, ob sich Prinz William als König unter solchen Bedingungen wirklich so entwickeln würde; immerhin wirken einige der Auswirkungen in der Beschreibung nicht durchgängig »britisch«; andererseits ist auch William nur ein Mensch, und man weiß bei Menschen immer genau, dass man vor allem nie genau wissen kann … 9 von 10 Punkten.
  • Sven Klöpping, Gothic Lovers: Dank der Verzögerungen bei der Entstehung von NOVA 17 hatte ich die Ehre, die Story zuerst auf dem Markt zu haben (Sven Klöpping, »Menschgrenzen«, AndroSF 10, ISBN 978 3 942533 09 6). Witzigerweise wirkt die Geschichte im Gesamtverbund dieses NOVA mit am schwächsten, möglicherweise, weil die in »Menschgrenzen« gebotene »Umgebung« fehlt. Wie auch immer: Die etwas rotzige, etwas punkige, jedenfalls ausgefallene Story kriegt in diesem Kontext immer noch 8 von 10 Punkten.
  • Gero Reimann, Was denn noch?: Die Geschichte des reichsten Mannes der Welt, dem man als letzten Höhepunkt in seinem Leben nur noch einen besonderen Tod bescheren könnte, ist für mich die drittbeste Geschichte in diesem NOVA. Zur Unterscheidung deshalb: 9,5 von 10 Punkten.
  • Ralf Wolfstädter, Schädlingsbekämpfer: Ein Stück zum Thema virtueller Realitäten und daraus resultierender Problemstellungen. Was mir an dieser Geschichte gefiel, das war die unterschwellige Reminiszenz an einen noch zu drehenden Film – mit Leonardo diCaprio in der Hauptrolle. 8 von 10 Punkten.
  • Michael K. Iwoleit, Die Schwelle: Mit tagebuchähnlichen Geschichten habe ich manchmal so meine Probleme. Die Nabelschau fremder Schreiber liegt mir selten, was wohl meinem Egoismus – meiner egoistischen Weltsicht – geschuldet ist. Auch wenn sie mir nicht durchgängig ungetrübt gefiel, sind die schriftlich niedergelegten Erlebnisse eines Menschen auf dem Rückweg in die Menschlichkeit auf allerhöchstem schriftstellerischen Niveau angesiedelt. 9 von 10 Punkten.
  • Aleksandar Ziljak, Ultramarine!: Ganz dicht hinter Hellers »Folterknecht« diese Story, die schwer zu beschreiben ist, weil sie vor allem durch Stimmungsbilder lebt. Gemischt mit Erinnerungen an einen Erdaufenthalt und dortigen Erlebnissen mit Walen, Tintenfischen und Kraken werden die Erlebnisse der Protagonistin auf ihrem Heimatplaneten geschildert, auf dem sie nach Beweisen für die Existenz einer Riesenkrake sucht, deren Existenz niemand wirklich als glaubhaft erachtet. – Das für mich Faszinierendste an dieser Geschichte ist das Ultramarinblau, das nicht nur praktisch durchgängig beschrieben wird, sondern regelrecht fühlbar ist. Absolut sensationell, deshalb 10 von 10 Punkten.
  • Frank Hebben, Das Lichtwerk: Steampunk ist hip, und vor einigen Tagen erst sah ich noch mal »# 9«, den Film mit den knuffigen Stoffpuppen, und irgendwie hat mich die Hebben-Story an diese Optik, an diese Szenerie, an diesen Flair erinnert. Die Geschichte ist ein wenig … unklar, nicht, weil man sie nicht verstehen könnte, sondern weil sie an einigen Stellen, vor allem zum Ende hin, absichtlich »unscharf geschrieben« ist, absichtlich wohlgemerkt, vielleicht, um darzustellen, wie sehr sich die Fähigkeit eines Menschen, Dinge zu erfassen, verändert, wenn sich die Umgebung verändert (aber das ist nicht das Hauptthema). Schöne Story jedenfalls, 9 von 10 Punkten.

EIN PAAR ZITATE GEFÄLLIG?
Ja, es sollen nicht nur die obigen Fehlerfundstellen stehen bleiben. Deshalb:

  • »Der Höhner zog ein liebevoll verziertes Etui aus der Brusttasche, aus dem er eine feine Nadel zog. Konzentriert beugte er sich über den Kunden, griff geschickt nach den Wimpern des linken Auges und zog das Lid daran bis zur Augenbraue hoch, dann stach er die Nadel mit einer Eleganz durch Lid und Augenbraue, die selbst den Folterknecht beeindruckte.« (Florian Heller, Der Folterknecht, Seite 46; »Höhner« ist hier übrigens eine Berufsbezeichnung und steht im Zusammenhang mit einer »Verhöhnung«.)
  • »›Höhere Astrophysik, Mädchen. Tut mir leid. Um ein Bild zu bemühen: Es war eine Linse, die einen Teil der Wirklichkeit bündeln konnte. Verstehst du?‹ – ›Nein.‹« (Frank Hebben, Das Lichtwerk, Seite 206.)

ZU EMPFEHLEN?
Ja.

NOCH WAS?
Abgesehen davon, dass ich meine Empfehlung an die Herren Herausgeber aufrecht erhalte, sich um ein besseres, vor allem aber einheitlicheres Korrektorat zu bemühen, wäre zu erwähnen, dass das Layout angenehmer ausgefallen ist, als in der Nummer 16. Olaf G. Hilscher hat eine etwas größere – oder jedenfalls größer wirkende – Schriftart gewählt, die zudem insgesamt angenehmer zu lesen war; dadurch waren die Textzeilen in dem immer noch einspaltigen A5-Bausparerformat NOVA nicht ganz so lang, sondern näherten sich dem, was ich als angenehm empfinde, deutlich an.
Erwähnen möchte ich auch noch den Artikel »Die deutsche Science Fiction Kurzgeschichte 2009« – es fehlen zwei Bindestriche – von Helmuth W. Mommers, den ich nicht bewerten möchte, weil er eigentlich eine ausformulierte Auflistung mit dieser Präsentation angemessen oberflächlichen Kritikandeutungen darstellt, in denen aber sogar mein kleiner Verlag genannt wird, wenn auch nur indirekt. Immerhin erfreute dies mein Verlegerherzelein.

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