Schaum, Schwesterlein, filmreif geschlagen

Thor Kunkel
SCHAUMSCHWESTER
Neue Welt 2, MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin, 2010, Taschenbuch, 277 Seiten, ISBN 978 3 88221 690 5

VORBEMERKUNG: Das Taschenbuch habe ich als ersten echten Beitrag zum DSFP 2011 gelesen; bislang war ich dort eher »administrativ« tätig, habe mich ums interne Komiteeforum gekümmert, die Website unterhalten, ab und zu mal Scans rumgeschickt – meist auf die Schnelle, am Ende pressiert’s immer – usw. usf. Nachdem 2010 nicht nur Thomas Recktenwald seinen Vorsitzendenposten aufgegeben und sich zurückgezogen hat, sondern auch einige andere Mitglieder ihren Hut nahmen, habe ich mir überlegt, dass es eigentlich gleichgültig ist, was ich lese, wenn ich überhaupt dazu komme, etwas zu lesen. Dieses Jahr gibt es also – nicht durchgängig, aber verstärkt – deutsche SF.
Mit dieser Rezi übernehme ich gleichzeitig annähernd eine Rezistruktur, wie sie Dirk van den Boom (www.sf-boom.de) erschaffen hat und wie sie – ebenfalls mit geringen Änderungen – inzwischen von Frank Böhmert (frankboehmert.blogspot.com) ebenfalls genutzt wird. Die Struktur erleichtert das Schreiben von Rezensionen, die bei mir oft eigentlich viel zu lange liegen bleiben …
Ach ja, und bei diesem Buch habe ich erstmals die von Frank Böhmert heißgeliebten Book Darts selbst eingesetzt (und kann seine Leidenschaft dafür nur voll und ganz begleiten).

WORUM GEHT ES?
Von vornherein ist klar, wie die Geschichte enden wird – im Blickwinkel des großen Ganzen. Die eigentliche Handlung aber ist eine Mischung aus Krimi mit ein wenig Action vor einem SF-Background, vor dem der Privatdetektiv Kolther gemeinsam mit seiner Assistentin Lora versucht, Scheinberg, den Erfinder der Schaumschwestern, aus dem Verkehr zu ziehen. Denn die Schaumschwestern, Gynoide, also eine Art von Androiden – oder besser Cyborgs –, wirken sich ein klein wenig negativ auf die menschlichen Gesellschaften aus. Oder vielleicht auch nur auf das Neidpotenzial bestimmter Menschen oder Menschengruppen?
Letzten Endes gelingt es Kolther und Lora, den Auftrag zu erfüllen. Aber einen einzelnen Hebel umzulegen, löst nicht immer das Problem.

WIE IST DER STIL?
Filmreif. Ich liebe Romane oder Geschichten, bei denen während der Lektüre auf der Innenseite meiner Netzhaut der zugehörige Film abläuft. Kunkel schreibt flüssig, elegant, ohne schwülstig zu sein, kraftvoll, ohne zu protzen, rund und zielsicher, dem Plot so angemessen, dass man möglicherweise ein Henne-Ei-Problem generieren könnte: Wer war zuerst da? Kunkels Plot oder der zugehörige Stil?
Die Filmreife in »Schaumschwester« ist so perfekt, dass ich ganz von Anfang an zwei Gesichter von Schauspielern hatte, die den Kolther spielen sollten: Bruce Willis wäre leider ein wenig zu alt, aber auch Jason Statham hat schon Rollen gespielt, die charakterlich ausgeprägter waren als seine Actionmalochen à la »Transporter«. Beide Schauspieler haben jedenfalls mehr drauf, als sich zu kloppen, und würden den Kolther sehr schön abgeben. Bei der Lora bin ich mir auch nach einigen Tagen noch nicht sicher – vielleicht, weil sie auch bei Kunkel eine ausgeprägte Nebenrolle ist, wenn auch mit einigen tragenden Elementen.

WAS GEFIEL NICHT?
An Kunkels Arbeit habe ich überhaupt nichts auszusetzen. Im Gegenteil.

WAS GEFIEL?
Das ganze Buch, der Plot, die Schreibe, ja, das ganze Buch. Und besonders einige Zitate:

EIN PAAR ZITATE GEFÄLLIG?
Höchst amüsant sind Passagen, in denen es um die Figur Kolthers im Besonderen geht. Er ist kein fieser Typ, kein wirklicher Miesepeter, aber so ein richtiger Optimist, ein wahrer Ständigfreuichmichüberwas ist er auch nicht. Er nennt sich selbst einen positiven Melancholiker. Und seine Weltsichten sind nett (oder nein … sie sprechen mich an …):

»Kolther faltete seine Zeitung zusammen.
›Lora, nun sei nicht albern … Mitte dreißig ziehen die meisten Menschen eine erste Bilanz ihres Lebens. In meinem Fall ist sie kurz: Die Landkarte der Enttäuschungen wird immer größer, der rote Faden meines Daseins ist Geld, das mich am Leben erhält. Kein allzu erbauliches Gefühl, um ehrlich zu sein. Ich lebe auf der Ebene des Determinismus, und auf dieser Ebene ist die Liebe ungefähr so schön wie ein »Romance-4 -2«-Dinner von Beate Uhse mit eingepackter Kerze, einer Viagra-Pille und milden K.O.-Tropfen. Man weiß in meinem Alter, worauf das Ganze hinausläuft, okay? Es gibt kein Neujahr in meinem Alter, sondern nur noch die Fortsetzung der alten Misere. Liebe – Fuck it! – Wozu? Was soll ich mit einer Frau, wenn ich keinen Sinn in der Fortpflanzung sehe? Keine Begegnung mit einer Frau hat eine Verbesserung meiner Lebensumstände gebracht. Alles, was sich ändert, stellt sich schnell als Nachteil heraus. Seit meiner Scheidung geht es mir besser, was in meinem Fall heißt: Nur halb so schlecht.‹
Sie zuckte von der irren Aufrichtigkeit seines Blicks getroffen zusammen.
›Manchmal geht mir dein Pessimismus zu weit.‹
›Wieso Pessimismus? Meine Art, Witze zu machen, ist meine Art, die Wahrheit zu sagen. Manche Männer denken, ihr Ding ist zu klein, andere tun so, als wäre das Lineal nicht in Ordnung. Es ändert alles nichts an der Realität, deswegen bringt es auch nichts zu jammern. Sieh mich an, Lora … In meinem Alter beginnen sich die Geschlechter zu meiden. Der Märchenprinz hat einen Buckel und hinkt, die Prinzessin hat eine erbsengroße Warze am Kinn und windschiefe Zähne … In wen sollte ich mich verlieben?‹
Loras Mund öffnete sich, sie schluckte und fast tat sie ihm leid.
›Wie nennt man eigentlich Typen wie dich?‹
Kolther überlegte einen Moment.
›Ich würde mich einen positiven Melancholiker nennen.‹« (Seite 110/111)

Und an anderen Figuren – hier Kolthers Psychiater – ist erkennbar, dass sich – natürlich – Thor Kunkel selbst sorgfältig auf seine Figuren verteilt hat:

»›Na und? Wenn Sie eine gewisse Reife hätten, Robert,« (Kolther) »dann wüssten Sie, dass der Sinn der Ehe die gegenseitige Zersetzung ist … ein aufreibender, unerfreulicher und unter Umständen lebenslänglicher Assimilationsprozess, aus dem die nächste Generation hervorgehen muss … Das, und nur das, ist der Sinn einer Ehe. […]‹« (Seite 157)

ZU EMPFEHLEN?
Aber unbedingt.

NOCH WAS?
Natürlich. Diese bei van den Boom und Böhmert nicht auftauchende Kategorie wird sich vor allem dem Formalkram widmen, den sonst kaum jemand interessiert.
Im Falle dieses Buches gibt es Formales zu vermerken, das mir nicht gefallen hat.
Dazu gehört zum einen das Buchformat. Es ist mit etwa 95 x 180 mm recht klein – was für unterwegs nicht unangenehm ist –, vor allem aber recht schmal, und hieraus resultiert für mich eine Schere zwischen angenehmem Lesekomfort und dem, was ich einem Buchrücken antun möchte, der trotz aller Vorsicht in Form einer erkennbaren Wölbung nach innen jedenfalls Schaden davonträgt.
Zum anderen lässt das Buch wie so viele andere aus Kleinverlagen deutlich erkennbar ein Korrektorat vermissen. Unangenehm wird das bei so Patzern wie der Frage, »wozu diese Dinger Kapazitäten von mehreren Terrabyte« brauchen (Seite 43). Es geht natürlich um Computer – und zu diesem Themenstrang hätte Kunkel auch ein wenig mehr lektorische Expertise brauchen können, denn wenn er von »Parallelprozessoren« (Seite 42) als offensichtliche Errungenschaft schreibt, dann ist die realweltliche Entwicklung der IT-Hardware in Richtung serieller Datenverarbeitungen wohl völlig an ihm vorbeigegangen: selbst Mehrkerner arbeiten nicht wirklich parallel, sondern seriell. Aber gut …
Auf Seite 97 geht es um das Autor, und Kolther stellt fest: »Von allen Maschinen des Menschen hatte es« (das Auto) »die radikalste Entwicklung unterlaufen – …« Das sind solche Sickschen Bonmotpräparationen wie die »Mund-zu-Mund-Propaganda«, für die ich letztlich kein wirkliches Verständnis aufbringen kann: Eine Entwicklung wird jedoch ganz unabhängig von jeglicher dichterischen und ansonsten Meinungsfreiheit »durchlaufen«, nicht »unterlaufen« – jedenfalls im Zusammenhang mit einer technologischen Entwicklung.
Noch ein Bock? Gerne: »Das Objektiv hatte einen unglaublichen Vergrößerungsfaktor, selbst der Ohrring eines Hoteldieners war noch haarscharf zu sehen.« (Seite 107) In meinem ganz persönlichen bisherigen Sprachverständnis war der Begriff »haarscharf« mit »gerade eben noch«, »ganz knapp«, »mit Mühe und Not« und ähnlichen Gedankenbildern verbunden.
Auch Kunkel – bzw. sein Lektorat resp. Korrektorat – frönt der Minuszeicheneinsparwut, damit sie im Internet nicht knapp werden, wie ich vermute: »Unter ihrer tropfnassen Helena von Troja-Frisur paffte sie in die Gegend …« Ich weiß nicht, was eine Troja-Frisur unter einer tropfnassen Helena ist und wie sie aussieht, ich vermute jedoch, dass eigentlich eine Helena-von-Troja-Frisur gemeint gewesen ist. Und Kleinigkeiten wie der mehrfach auftretende »Maître d’hôte«, dem wohl ein »l« fehlte, sowie »Sinn machende« Dinge, bei denen ich mir immer mehr »tot machende« Sachen vorstelle, sind dann auch nur noch Kleinigkeiten.
Bis zu einem gewissen Grad muss sich ein Autor ja die Mitschuld an solchen Unreinheiten zuschreiben lassen, denn ich gehe davon aus, dass ein Autor Korrekturfahnen bekommt, spätestens, wenn das Buch so weit gesetzt ist, dass es gedruckt werden könnte. Außer bei Anthologien à la STORY CENTER bekommen meine Autoren so was jedenfalls – wenn ich auch weiß, dass die meisten mir bisher einfach so vertrauten. Aber eigentlich sollte so was so nicht sein …

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