Herr Hütter und die Staatsstraße

Herr Hütter war alles, nur kein politisch aktiver Mensch. Politik interessierte ihn nicht. Ihn interessierte nicht einmal, ob Politiker korrupt waren, ob er von der Politik ausgenutzt wurde. Es interessierte ihn nicht. Politiker waren keine Menschen. Herrn Hütter interessierten ja nicht einmal Menschen, die nachweisen konnte, welche zu sein.
Es gab Dinge, die beurteilte Herr Hütter ganz gefühlsmäßig. Einfach so.

Er lebte an einer Staatsstraße mit der schönen Nummer 2062. Staatsstraßen hießen nur in einem Bundesland seiner Heimat so; in allen anderen Bundesländern nannte man sie Landstraßen. Nummern hatten sie alle. Die, an der Herr Hütter lebte, hieß 2062.
Sie führte von einem Ort zu einem anderen. Und sie führte durch seinen Ortsteil, eine winzige Siedlung mit wenigen Häusern direkt an der Staatsstraße, und einigen mehr darum herum. Aber zu denen kam man nur, indem man irgendwo abbog. Herr Hütter wohnte direkt an der Staatsstraße. Direkt. Er hätte nur näher wohnen können, wenn er auf der Staatsstraße gewohnt hätte.
Der kleine Ortsteil, in dem Herr Hütter lebte, war am Anfang und am Ende mit einem typischen Schild gekennzeichnet. »Westried« stand darauf. Gelbe Schrift auf grünem Grund. Für niemanden etwas von Bedeutung, das bedeutete diese Farbgebung.
Seit Herr Hütter hier wohnte, hatte man die Geschwindigkeit in mehreren Stufen immer weiter begrenzt. Erst auf 80 Kilometer pro Stunde, dann auf 60. Die Zone war immer weiter vergrößert worden. Immer dann, wenn ein Mensch von einem rasenden Idioten überfahren worden war. Die Beschränkung auf 80 hatte des Todes eines zwölfjährigen Mädchens bedurft.
Was die rasenden Idioten mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen anfingen, interessierte indes niemanden. Irgendein Zuständiger ließ zwei oder drei Mal im Jahr für einige Stunden ein Auto mit einer Kamera hinstellen, um Fotos zu machen und abzukassieren. Das Auto und die Kamera standen so auffällig, dass nur Vollidioten in die Falle fuhren. Touristen vielleicht. Idioten jedenfalls. Und ansonsten –

Im Herbst hatte Herr Hütter dem Bürgermeister geschrieben. Der war nicht zuständig. Die örtliche Tageszeitung brachte einen Artikel. Mit Foto. Herr Hütter vor dem 60er Schild, im Hintergrund ein durch die Geschwindigkeit verwischt wirkender LKW. Das Landratsamt versprach, im Frühjahr Messungen zu machen. Sie schrieben nicht, wann im Frühjahr. Auch nicht, in welchem.
Und der Winter zog durch das Land. Er änderte nichts. Selbst bei widrigsten Straßenverhältnissen kam niemand auf die Idee, die 60er-Schilder ernst zu nehmen. Mehrmals stellte Herr Hütter sich an den Rand der Staatsstraße und machte Fotos. Abends. Im Dunkeln. Mit Blitz. Von gezählten – nicht gefühlten! – fünfzig Autofahrern reagierte nur einer auf den Blitz, indem er bremste.
Und nachdem er zum wiederholten Male von einem rasenden Idioten angeblendet worden war, als er mit seiner Hündin die Straße überquerte – was er immer musste –, und dieser nicht bremste, sondern am Ende noch hupte und in seinem Hausfrauenpanzer vor sich hinfuchtelte, traf Herr Hütter eine Entscheidung.

Als er Frühling gekommen war und die Motorradfahrer die Situation in der Zone noch verschärften, legte Herr Hütter sich aufs Dach. Die ersten zwei Motorradfahrer, die er erschoss, blockierten die Spur in der westlichen Richtung. Der Fahrer eines Hausfrauenpanzers achtete – natürlich – nicht auf das, was vor ihm auf der Straße stattfand. Sein Wagen wurde durch eines der Motorradwracks hochgehebelt und überschlug sich, einen Mercedes und einen VW-SUV auf der Gegenfahrbahn zerstörend. Ein LKW der Spedition Wixxwer krachte in die Wracks und ging schnell in Flammen auf.
Herr Hütter schoss bedächtig, gezielt und sorgfältig auf ein Ziel nach dem anderen. Für die vierzig Schuss in seinem Magazin gab es mehr als genug Ziele, denn keiner der nachfolgenden Autofahrer war in der Lage, einfach anzuhalten, um die Lage zu eruieren, das Problem vielleicht nicht noch zu vergrößern.
Autofahrer, die ihre Fahrzeuge scheinbar unverletzt verließen, erschoss Herr Hütter mit seiner Pistole. Er war ein guter Schütze. Er fehlte nicht. Nicht einmal.

Die Polizisten, die ihn festnehmen wollten, fragte Herr Hütter, wo sie gewesen seien, bevor das Problem entstand. Im Herbst des Jahres zuvor. Irgendwann. Und überhaupt. Die Polizeibeamten konnten diese Frage nicht beantworten, sie nahmen ihn fest.

Angeklagt wurde Herr Hütter nicht. Auch der Staatsanwalt wusste nicht nachzuweisen, wo sein verschissener Arsch gewesen war, als er gebraucht wurde. Er versuchte, Herrn Hütter mit einer Hausdurchsuchung einzuschüchtern, aber selbst auf Herrn Hütters Frage, was er, der Staatsanwalt, überhaupt suchte, wusste der Wicht keine Antwort.

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