Herr Hütter und der Köder

Es war November. Dunkel, diesig. Kein wirkliches Wetter. Keine wirkliche Welt. Aber seine Hündin wollte nach draußen. Wenn jemand seine Uhr richtig gestellt hatte, dann war das Herrn Hütters Hündin.
Also raus –

Die Gänge im Ort und der Umgebung waren langweilig. Nervtötend. Lauter Steigungen, unnötig steil, die zwangsläufig waren. Die Gefälle waren es auch, was es nicht leichter machte. Am Ende überwogen irgendwie immer die Steigungen.
Einer der Gänge war die Trinakria. Herr Hütter nannte sie so nach dem Wappen Siziliens, nach diesem dreibeinigen Lebewesen. Bei ihm waren es drei Wegeschleifen, so angeordnet wie des Wappens Beine.
Rauf auf den Berg, einmal rundherum. Und zurück. Über die Staatsstraße. Runter in das Nachbarörtchen, die Seniorensiedlung. Die Leichenhalle, wie Herr Hütter sie insgeheim nannte. Dort leben nur Menschen, die kein Licht mehr brauchten. Leichten also. Vermutlich.
Und zurück nach oben. Eine verdammte Miststeigung. Und weiter zum Bahnhof. Und wieder in eine Senke. Zurück in eine Straße. Auch dort waren die Häuser nicht wirklich bewohnt. So schien es Herrn Hütter.

An einer Stelle blieb seine Hündin stehen und schnüffelte länger als gewohnt. Herr Hütter kannte die Stellen, die seine Hündin mochte. Er kannte die hündischen Litfaßsäulen. Diese Stelle gehörte nicht dazu. Herr Hütter wartete einen Augenblick.
Dann sah er hin.
Und er sah, dass seine Hündin etwas im Maul hatte. Ohne nachzudenken, griff er ihr ins Maul. Er wusste, sie würde ihn nicht beißen. Und selbst, wenn sie es tun würde, war es ihm egal. Es war ihm wichtiger, sie lebend für ihren Biss bestrafen zu können, als ihr beim Sterben zuzusehen.
Was er aus ihrem Maul holte, war … matschig. Schmierig. Eklig. Es roch. Nein, es stank. Süßlich, vergammelt, blutig, faul. Herr Hütter hob das seltsam unfeste Stück Materie vor seine Augen und wich gleichzeitig zurück. Was immer das war, es war –

Herr Hütter sah seine Hündin an. Ihr Blick war verzweifelt. Aber das war er immer, wusste Herr Hütter, wenn er ihr etwas wegnahm, das sie sicher erobert geglaubt hatte. Er sah ihr in die Augen. Da war nichts –
Keine hundert Meter weiter kotzte seine Hündin, was gäbe es am nächsten Tag nichts mehr, für das es sich zu kotzen lohnte. Sie blieb dabei nicht stehen, sondern legte sich hin. Ihr Erbrochenes glitschte über ihre vorderen Füße. Und am Ende lag sie nur still da.
Herr Hütter wusste, dass sie sich nicht tragen lassen würde. Aber er würde sie hier nicht liegen lassen. Er würde es versuchen. Er griff unter den Hund und hob ihn hoch, und seine Hündin ließ es zu. Sie gönnte ihm sogar einen winzigen Blick, den er als dankbar interpretierte. Sonst hing sie nur schlaff in seinen Armen.
Er trug sie nach Hause.

Er trug sie nach Hause.

Er trug sie.

Später ging er noch einmal vor die Tür. Er wusste seinen Hund gut aufgehoben. Sie hatte sich gefangen, etwas gefressen. Sie hatte nicht mehr gekotzt. Auch alle anderen Angelegenheiten waren geregelt.

Als Herr Hütter einige Stunden später heimkehrte, gab es in der Siedlung und dem Nachbarörtchen siebzehn Tote. Einer davon war ein Hund, den er sowieso schon lange hatte zur Strecke bringen wollen. Herr Hütter hatte nicht geredet. Er hatte nur geschossen. Keiner hatte ihm wiedersprochen. Nur der Hund hatte einmal gebellt.

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