Die Leserin Uta Schipull hat das Buch »Du sollst vergessen« von Andreas Schäfer nicht nur gelesen, sondern auch ausführlich rezensiert:
Schon der Titel des Romans lässt den potenziellen Leser innehalten. Die Form des Imperativs fordert ihn sogleich zum Handeln auf und selbst wenn es sich nur um eine Bitte, eine Empfehlung oder einen Ratschlag handeln sollte, ist die Befehlsform oder zumindest der Charakter einer Anweisung nicht ganz wegzudenken. Das Alte Testament mit seinen 10 Geboten lässt grüßen. Sie gelten als eine Art Richtschnur fürs Leben, auch für Atheisten. Gilt dies auch für das Vergessen?
Warum ein 11. Gebot? Ich soll also vergessen. Was heißt das genau?
Das Verb ›vergessen‹ – normalerweise negativ konnotiert – meint zunächst einmal, dass Wahrgenommenes bzw. Gelerntes dem Gedächtnis nicht mehr verfügbar sein soll. Erlebtes kann nicht mehr in die Erinnerung zurückgerufen werden. Vergessliche Menschen nehmen wir in der Regel als gedankenlos, geistesabwesend und konfus, ja kopflos wahr. Sie sind oft nicht bei der Sache, gelten als unkonzentriert und unzuverlässig. Hält dieser Zustand an, geht er irgendwann über in Schusseligkeit und Zerstreutheit. Die Steigerung davon ist Verwirrtheit und es drängen sich Assoziationen eines Krankheitsbildes auf: Ist der Mensch nur vergesslich oder schon dement?
Doch darum geht es in Schäfers Roman nicht. Vielmehr steht hier bewusstes Vergessen im Fokus des Geschehens, Vergangenes muss hinter sich gelassen werden, um die Gegenwart unbeschwert genießen zu können. Und dies lässt der Autor einen renommierten Professor der Psychologie sagen, der sich damit gegen bisherige Erkenntnisse der Psychoanalyse und so auch gegen viele Kolleginnen und Kollegen in seinem Umfeld stellt. Wenn diese sich auch darüber einig sind, als Akutmaßnahme in schweren Fällen zu Verdrängung und Ablenkung zu raten, herrscht dennoch Konsens darüber, sich mit etwas Distanz ans Aufarbeiten einer negativen Erfahrung zu machen. Nicht selten sind die Ursachen für seelische Verletzungen in naher oder ferner Vergangenheit, nämlich in der Kindheit, zu finden.
Vorster allerdings ist von der Umkehrung der Psychoanalyse fasziniert und seine Selbstverliebtheit, seine Selbstgewissheit und seine Überheblichkeit lassen etwaige Einwände ins Leere laufen.
Der Professor wird für seinen neuen Forschungsansatz gefeiert und avanciert zum Star der Branche. Dies geht auch eine ganze Weile gut, bis die plötzliche Nachricht, er sei Vater einer mittlerweile erwachsenen Tochter, ihn zwingt, sich doch mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Schäfer beherrscht die hohe Kunst, Vorster in seiner Interaktion mit den anderen Romanfiguren lebendig werden zu lassen. Sei es eine Patientin wie gleich zu Beginn oder seine Assistentin Frau von Allerthin, seine Ex-Frau Ruth-Esther Mireille, seine neue Frau Rosa, der Politologe Simon Bernard oder der schriftstellernde Journalist Thomas Ande. Unvergesslich und an dieser Stelle zu erwähnen sind die authentischen Frauen aus Kapitel 15, Callgirls der besonderen Art, die einen Wendepunkt in der Beziehung Vorster-Bernard insofern darstellen, als sich Bernard hier, wie schon zuvor angedeutet, ganz deutlich von Vorster entfernt.
Wer den Roman liest, spürt immer wieder den Antagonismus zwischen Vergessen und Erinnern und nur, wer diesen Widerstreit in den Griff bekommt, wird das Leben im Augenblick feiern können, so, wie Vorster es propagiert. Und mal ehrlich: Wer will denn nicht das Leben im Augenblick genießen?
Was diesen Roman so besonders macht, ist die Erzählweise. Die 24 Kapitel, in denen durchaus nicht immer Vorster im Mittelpunkt steht, geben dennoch Aufschluss über ihn als Person. So spiegelt er sich in den anderen Protagonisten wider bzw. geben diese immer auch Aufschluss über Vorster. Dabei sagt sein Verhalten gegenüber den ihm nahestehenden Personen mehr über ihn aus, als ihm selbst lieb wäre. Und überhaupt: Es sind 24 Kapitel. Soll hier vielleicht ein Bezug zur Vorweihnachtszeit hergestellt werden? Der Adventskalender mit seinen 24 Türchen, der mittlerweile vor allem kommerzielle Bedeutung hat, ist immerhin ursprünglich aus kirchlichen Traditionen entstanden – wenn auch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Aufgabe für Literaturwissenschaftler. Vielleicht.
Was auffällig ist und die sehr klare und gelungene Konstruktion dieses Romans unterstreicht, ist die Anordnung dieser 24 Kapitel, die eine gewisse Rhythmisierung schon dadurch vorgeben, dass in den Kapiteln 4, 8, 12, 16, 20 und 24 das weibliche Geschlecht im Mittelpunkt steht. Diese kompositorische Meisterleistung widerspricht übrigens nicht dem offen-artistischen Erzählen, durch das dieser Roman mehr als bereichert wird. Versteckte Hinweise auf Max Frischs »Gantenbein«, etwa wenn wir lesen können »Er könnte der Vater von Ande gewesen sein. Vielleicht auch von Bernard. Sicher nicht von Vorster«, drücken dies zum Beispiel aus. Interessant ist auch, dass die drei Männer Vorster, Bernard und Ande von Mireille fasziniert sind, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Eine Parallele zu Gantenbein, Enderlin und Svoboda hinsichtlich Lila drängt sich auf.
Schäfers Roman erinnert uns daran, dass Literatur immer in einer Tradition steht. Dies geschieht durchaus mal explizit, etwa wenn sich Schäfer auf Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich« bezieht, aber es gibt auch versteckte Anspielungen auf weitere Werke, etwa den gefesselten Poeten auf der Überfahrt nach Montevideo aus Frischs Santa Cruz, der an Ande erinnert.
Ein literarischer Hochgenuss, nicht zuletzt deshalb, weil Schäfer oft augenzwinkernd und mit einer gehörigen Portion Ironie existenzielle Fragen des Lebens aufgreift.
Am Ende fügt sich alles mosaikartig zusammen und dennoch sieht sich der Leser offenen Fragen gegenüber. Es ist kein Roman, der Antworten gibt, sondern einer, der einen großen Interpretationsspielraum bietet. Die Leser können zu unterschiedlichen Antworten kommen. Das ist es, was ich von einem guten Roman, einem Lesevergnügen auf hohem Niveau erwarte!
Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser.
(Uta Schipull, mit freundlicher Genehmigung)