Die deutsche Einheit ist 30 geworden. Heute.
Interessanterweise verbinde ich mit dem 3. Oktober 1990 praktisch kaum Erinnerungen. Es war ein juristischer Vorgang, die Zusammenführung zweier Staaten zu einem neuen Gebilde. Oder besser: die Vereinnahmung eines Staates durch einen anderen.
Die ganzen Probleme sind natürlich bekannt. Ossis vs. Wessis. Solidaritätsabgabe. Die Entwicklung von Löhnen und Renten. Die wirtschaftliche Lage im Osten. Ach, all die Dinge, die einen zweifeln ließen und manchmal noch immer lassen, ob es eine Einheit wirklich gibt, jemals geben wird.
Es wird sie vermutlich nicht so geben, wie sich das Politiker und Journalisten vorstellen und mit ihrem Gerede von »blühenden Landschaften« den Menschen unsinnige Flausen in den Kopf setzen, von Vorstellungen, die sich so niemals realisieren lassen. Es gab schon im Westen keine Einheit, und es wird sie auch im vereinten Deutschland nicht geben. Denn die Menschen sind unterschiedlich. Die Gegenden sind unterschiedlich. Alles ist unterschiedlich.
Ich denke an Murnau zurück. Westried, der Ortsteil, in dem ich lebte, der »Seniorensumpf« Moosrain, in dem nur alte Leute zu leben schienen, und der Nachbarort Grafenaschau, das »Neureichengetto« – drei Örtlichkeiten, die sich grundsätzlich voneinander unterschieden und wohl immer noch unterscheiden. Je nachdem, welchen Aspekt man ins Auge fasst.
Und so ist es doch überall. München, Nürnberg, Düsseldorf, Hamburg, Berlin – alles nicht vergleichbar. Bayern, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen – nicht vergleichbar. Und das nicht, weil die Versprechungen von Politikern und Journalisten nicht eingetroffen sind – sondern weil sie von vornherein unsinnig waren, sind und immer sein werden.
Für mich ist die Einheit vor allem eines: Ich kann nach Wismar fahren, in eine Stadt, die ich sehr mag, ich kann mit Bewohnern von Leipzig und Dresden nicht nur kommunizieren, ich kann sie auch besuchen. Es gibt immer noch unterschiedliche Dialekte, aber eine Vereinigung der beiden deutschen Teile hat niemals zum Ziel gehabt, ostdeutsche Dialekte zu zerstören oder auszutauschen. Für mich ist die Einheit Freizügigkeit, ein Teil der Freizügigkeit, die ich auch in den Staaten genieße, die dem Schengener Abkommen beigetreten sind.
Ich erinnere mich an die Wochen nach der Grenzöffnung – und das sind die intensiveren Erinnerungen –, an das Wochenende, als ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin – die ihren Vater für einen Nazi hielt, selbst aber von den neuen Ländern als »Dunkeldeutschland« sprach; der Apfel und der Stamm … – nach Berlin fuhr, nach Ostberlin; ich erinnere mich an die Autobahnbaustelle – die Ostautobahnen waren sofort nach der Grenzöffnung durchgehend Baustelle –, in der ein tschechischer Omnibus beide Spuren blockierte, während er Richtung Berlin zockelte, zwei hinterher fahrende Pkws auf der Stoßstange, Lichthupe und Hupe ignorierend,; ich erinnere mich an die vierspurigen Kreuzungen in Ostberlin, die zwanzig, dreißig Meter hinter den Ampelanlagen nur noch zweispurige Straßen waren, an die Straße in der Plattenbausiedlung, die plötzlich – ohne Absperrung, Beschilderung, Beleuchtung – in einer riesigen Baugrube endete (und wir landeten nur deshalb nicht in derselben, weil es neblig war und ich nicht sehr schnell fuhr).
Ich erinnere mich an herzliche Ostberliner, die uns Kost und Logis fürs Wochenende boten. (Lustigerweise erinnere ich mich nicht, warum wir überhaupt in Ostberlin waren …)
Die europäischen Bemühungen einer europäischen Einheit leiden unter dem Schwachsinn, den Boris Johnson und seine Schergen angezettelt haben, der unter der unsäglichen Wortschöpfung »Brexit« bekannt ist. Sie leiden unter Viktor Orban und der polnischen Rechten. Es gibt Strömungen in manchen Ländern, die daran zweifeln lassen, dass es eine europäische Einheit jemals geben wird. Und doch – ich denke, es gibt sie schon, soweit sie möglich ist, und wenn Politiker und Journalisten aufhören, Unsinn über die Aspekte einer Einheit zu verbreiten, die sie für richtig halten, deren Richtigkeit aber unbewiesen ist und bleiben wird, dann wird sich die Erkenntnis der europäischen Einheit auch in den Köpfen der Menschen festsetzen.
Und wie auch immer separatistische Bestrebungen – Stichwort: Katalanien – in Europa aussehen: Deutschland wird Einheit bleiben. Es gibt keinen vernünftigen Grund, anderes anzunehmen. Sieht man vielleicht davon ab, dass unsere beiden Freistaaten anderes im Sinn haben könnten. Aber da stellt sich dann die Frage, was wir wirklich verlören …