Jens Lubbadeh
UNSTERBLICH
Heyne Verlag, München, 2016, Paperback, 445 Seiten, ISBN 978 3 453 31731 4
VORBEMERKUNG
Ende August 2016 fand in Oldenburg der MediKonOne statt, und aus nicht genau bekannten Gründen hatte sich der Heyne Verlag nicht lumpen lassen und mehrere Hundert Exemplare dieses Buches spendiert, sodass jeder Conbesucher ein Exemplar in der Contüte vorfand. Ich auch.
WORUM GEHT ES?
Diese Variante der Unsterblichkeit ist nicht ganz unbekannt: »Immortal« hat mit verschiedenen Maßnahmen eine Verbindung zwischen realer und digitaler, sozusagen virtueller Welt geschaffen. In der virtuellen Welt existieren die sogenannten »Ewigen«, digitale Kondensate verstorbener Menschen. Man kann sie nicht anfassen, aber sehen; man kann sie nicht filmen oder fotografieren, es sei denn, man verfügt über spezielles Equipment. Aber sie sind da. Und sie bleiben da – ewig. Eigentlich.
»Fidelity« ist eine Firma, die diese »Ewigen« auf ihre Echtheit – d. h., auf ihre Übereinstimmung mit dem Original – prüft, zertifiziert und damit Sorge trägt, dass »Immortal« nicht verklagt werden kann. Benjamin Kari ist Mitarbeiter von »Fidelity« – und eine seiner »ewigen« Kundinnen war Marlene Dietrich.
Das alles wäre langweilig, würde die Dietrich – bzw. ihr Ewiger – nicht verschwinden und ein gewisser Reuben Mars, ehemaliger »Immortal«-Mitarbeiter mit großen Befugnissen, nicht nur Vorwürfe gegenüber »Immortal« erheben, sondern auch beweisen, dass eine ganze Reihe von Behauptungen »Immortals« leicht ad absurdum geführt werden können. Dazu gehört auch die Nichtmanipulierbarkeit der Ewigen.
Gemeinsam mit der Journalistin Eva kommt Kari in Kontakt mit Reuben Mars und soll Beweise für die Richtigkeit der Behauptungen Mars’ präsentiert bekommen. Am Ende gibt es diverse Tote, »Immortal« entpuppen sich als die Bösen – hat wirklich jemand angenommen, Reuben Mars sei der Böse? – und die Ewigen verändern sich. Ob zu ihrem Vor- oder Nachteil, diese Frage lässt der Autor unbeantwortet.
WAS GEFIEL?
Der Stil des Autors ist lesbar, es kommt Spannung auf, der Handlungsfaden bietet wenig unerwartete Wendungen, aber auch keine Vorhersehbarkeit, die Langeweile aufkommen lassen könnte.
Sensationell gut hat mir das Titelbild gefallen; es stammt von »Das Illustrat« aus München, die sehr viel für Heyne arbeiten. Mit minimalsten Stilelementen, die noch dazu Erinnerungen an Kunstrichtungen der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts aufkommen lassen, wird dem kundigen Betrachter sofort zweifelsfrei klar, um wen es sich handeln soll. (Anders ausgedrückt: Wer Marlene Dietrich nicht erkennt, hat sie vermutlich nie bewusst gesehen.)
WAS GEFIEL NICHT?
Die Figurenzeichnung ist ein wenig zu flach, zu wenig detailliert. Am meisten Charakter scheint noch die Journalistin Eva vorzuweisen; Benjamin Kari ist als Hauptfigur des Romans ganz eindeutig zu schwach ausgeprägt.
Einige wenige Längen sind mir aufgefallen, Stellen, an denen ich überlegt habe, ob sich der Autor die nicht hätte sparen können. Wirklich gestört haben sie nicht, sie waren zum Glück nicht ausgeprägt genug. Aber aufgefallen sind sie mir trotzdem.
ZU EMPFEHLEN?
Ja. Wenn man einen spannenden SF-Krimi lesen möchte, ist man hier durchaus gut bedient.
Gefallen könnte das Werk auch denjenigen, die die Interpretation eines Plots gerne auch einmal selbst anstellen. Die Konsequenzen der »Erfindung« der digitalen Ewigen für die Gesellschaft an sich, aber auch die Konsequenzen der Handlungen der Firma »Immortal«, werden nicht bis zum Allerletzten ausgewalzt. Eher noch im Gegenteil – mit der Nachdenklichkeit über das, was das Quasi-Zusammenleben mit einem Ewigen, der sich nicht mehr verändert, der also nicht wirklich lebt und erlebt, für einen noch lebenden »echten« Menschen bedeutet, lässt der Autor den Leser im Grunde vollständig allein.
Aber ich finde das in Ordnung – im Gegensatz zu anderen Kritikern des Buches erhebe ich nicht den Anspruch, dass man mir alles, was man sich zum Thema denken könnte, vorkaut. Mir gefällt es durchaus, wenn ich, nachdem ich das Buch weggelegt habe, noch ein wenig darüber nachdenke, was mir der Autor vielleicht noch hat sagen wollen, das sich da nicht schwarz auf weiß gedruckten Buchstaben fand.
NOCH WAS?
Irgendwo habe ich gelesen, dass Heyne durch die Gratisaktion auf dem MediKonOne dem Buch seine Würde genommen, es verheizt hätte. Rubbish. Den Unterschied gegenüber den doch hoffentlich erfolgreichen Bemühungen, das Buch in mindestens gleicher oder gar höherer Auflage zu verkaufen, kann ich nicht erkennen. Letztlich kommt es nicht nur darauf an, dass ein Buch verkauft wird – der Autor bekommt von Heyne sicherlich so oder so sein Honorar –, sondern viel eher noch, dass die Menschen es auch lesen können.
Gemeckert wurde seitens der Kritik selbstverständlich auch über die Tatsache, dass der Roman nicht SF pur war, sondern der Autor es gewagt hat, Krimi- und gar bisweilen Thrillerelemente einfließen zu lassen. Das ist in der SF-Szene, die sich gerne stiefmütterlich behandelt fühlt, vor allem von Verlagen, die ja doch eindeutige SF-Stoffe als »Thriller« oder – wie hier – einfach nur als »Roman« bezeichnen und dem SF-Fan einmal mehr verwehren, sein Lieblingsgenre SF nicht als SF gelabelt zu sehen, damit die lesende Weltbevölkerung auch garantiert mitbekommt, dass es sich nur um SF handeln kann. Nichts sonst. Rubbish.
Besonders schön finde ich die Kritik, das Buch weise Logikfehler auf. Dergleichen liest man ja immer wieder, und dergleichen amüsiert mich ebenso oft. Rubbish. Ausgerechnet SF-Leser und -Fans gehören zu den Unbelehrbarsten in dieser Hinsicht. Ich frage mich dann nicht nur gerne, wie jemand wie Terry Pratchett zum Beispiel es geschafft hat, seine selbst erfundenen Welten – mit deren ganz eigener Logik, von der selbst ich als Pratchett-Ungebildeter weiß, dass sie durchaus als außergewöhnlich durchgehen dürfte – vor dergleichen Kritik zu retten, von anderen Autoren und deren Welten nicht zu reden. Ich müsste mich als Leser schämen, würde ich von einem fantasieerfüllten und schriftstellerisch geistreichen Autor verlangen, er möge seine Weltenschöpfung doch gefälligst meiner Logik anpassen, statt es – wie es richtig wäre – andersherum zu tun. Meine Logik erleidet ja keinen Schaden, wenn ich mal eine andere Logik zum Zuge kommen lasse.
Und dann die Tiefe, ja, die Tiefe. Dieser Punkt der Kritik auch an diesem Werk hat etwas mit dem zu tun, das ich oben schon erwähnte: Wie platt walze ich als Autor das aus, was ich zu sagen habe? Lasse ich dem Leser auch noch Raum für eigene Überlegungen? Oder zelebriere ich die philosophischen Intentionen hinter meinem Text in kantscher oder nietzschescher Manier, ergo in einer Ausführlichkeit, die letztlich beim Leser vor allem zu einem führen könnte: Langeweile?
Einen einzigen Vorteil hat solcherlei Kritik: Ich habe auch was zu meckern.