Erstlingswerk mit Spoilernotwendigkeit

Arno Endler
PARACELSUS
Atlantis-Verlag, Stolberg, März 2015, E-Book, ISBN 978 3 86402 237 1

VORBEMERKUNG
Arno Endler ist der Mann, wegen dem im Heise-Verlag schon eine Umbenennung der c’t in ae’t o. ä. nachgedacht wurde; seine Erfolgsquote bei der Platzierung von Kurzgeschichten in diesem Computertechnikmagazin lässt auf einen nicht unerheblichen Fankreis im Heise-Verlag schließen.
Arno Endler ist der Mann, dem ich böse sein sollte, weil er mir seinen ersten Roman nicht auch angeboten hat, nachdem wir mit »Am Anfang« (AndroSF 44) schon eine gemeinsame Storysammlung veröffentlicht hatten. Aber wozu sollte das gut sein? Zumal ich Guido Latz und seinen Atlantis-Verlag mag.

VORWARNUNG
Wichtig für den Leser dieser Rezension an dieser Stelle ist, dass in dieser Rezension zwangsläufig gespoilert wird. Die Handlung des Buches erzwingt es, möchte ich nicht mit inhaltslosen Plattitüden und Ausreden daherkommen. Wer das Buch also noch nicht kennt und ungetrübt die Spannung des Werkes genießen möchte, sollte sich hier verabschieden.

WORUM GEHT ES?
Der Romantitel mag Zufall sein, könnte aber auch einen Hinweis geben – vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Anfangs geht es um den Protagonisten, der in der Kabine eines Raumschiffs erwacht, der keinerlei Erinnerungen besitzt und von anderen Personen – darunter dem einzigen Angehörigen der Crew (nebst diversen Passagieren) – als Kapitän des Schiffes bezeichnet wird. Das Schiff ist in keinem guten Zustand: voll Fehlern, die KI mit unendlich vielen Aufgaben gleichzeitig beschäftigt, dabei sowieso nicht sehr auskunftsfreudig, und in der Nähe gibt es ein Schwarzes Loch, das sich dem Stückchen Materie bemächtigen möchte. Und: Der Kapitän braucht ein Passwort, um sich des vollständigen Einflusses auf das Schiff zu bemächtigen. Und das Passwort erinnert er nicht mehr.
Bei dem Versuch, das Passwort herauszufinden, sterben die Passagiere einer nach dem anderen – durch die Hand des sogenannten MoH, des »Mannes ohne Hals«, und in einem Falle durch die Hand des Kapitäns. Am Ende …

… muss nun eben gespoilert werden: Denn der Plot auf dem Raumschiff war nur eine Simulation, die allein dem Zweck diente, einer unter Bewusstseinsspaltungen leidenden Person ihre geistige Integrität wiederherzustellen. Die Passagiere, die einer nach dem anderen sterben – vulgo: reintegriert werden –, sind die abgespaltenen Bewusstseinsteile des Patienten. Das Raumschiff in der Notsituation diente genau dazu, dem Probanden so wenig wie möglich Auswege anzubieten, um der eigentlichen »Arbeit« der Bewusstseinsreintegrationen aus dem Weg gehen zu können. Und am Ende …

Das Buch endet mit Interviews bzw. Ausschnitten aus solchen, die mit dem – bzw. der, es handelt sich um eine Frau – Probanden geführt wurden. Dazu in einem weiteren Anhang E-Mail-Korrespondenzen.
Und wer an dieser Stelle trotz Spoilerwarnung weitergelesen hat und nun enttäuscht ist, dem sei gesagt, dass es am Ende doch noch etwas Überraschendes gibt, das dem Buch zwar keine vollständig andere Wendung gibt, aber eben überraschend – in durchaus erfreulichem Sinne – ist.

WAS GEFIEL?
Der erste Teil des Buches, der in dem Raumschiff spielte, war spannend, geheimnisvoll, eine schöne Mischung aus SF, Mystery und Thriller. Es gab eine Reihe von Elementen dabei, die ich zunächst nicht verstanden habe – und die sich vor allem an den spezifischen Eigenheiten der Passagiere kristallisierten (eine Frau war dabei, die grundsätzlich nackt im Schiff herumlief) –, die aber später klarer, nein: klar wurden.

WAS GEFIEL NICHT?
Über den brachialen Plotwechsel mitten im Buch habe ich mich zuerst geärgert. Richtig geärgert. Ich hätte zu gerne gewusst, was aus dem Raumschiff werden würde. Aber gut –
Das war halt nicht das Thema.
Der zweite Teil, in dem es um die Patientin ging, der die Simulation gewidmet war, war weiterhin gut geschrieben, aber nach der vorgenannten Enttäuschung irgendwie nicht mehr wirklich interessant für mich. Es ist nicht so, als gehörte ich nicht zu den Menschen, die es nicht gerne sehen, wenn einem Leser, einem Filmkonsumenten o. ä. ein Mordsbären aufgebunden wird, der sich dann nicht mal als Kunstfell entpuppt, sprich: Ich mag es durchaus, wenn jemand einen Plot entwickelt, der mich packt und fesselt – und mich dann hinter’s Licht führt. Aus einem mir nicht ganz erfindlichen Grunde scheint es Arno Endler in diesem Falle nicht gelungen. Meine Enttäuschung war zu groß, um durch die weitere Handlung überwunden zu werden; soll oder kann heißen: Sein erster Romanteil war zu gut, um nach dem Bruch noch ebenso gut repariert zu werden.
Die beiden Anhänge waren erhellend, aber in meinen Augen nicht wichtig. Einzig die Informationen aus den E-Mail-Nachrichten, die zu der erwähnten Überraschung am Ende führten, haben mich dann doch noch ein wenig versöhnt. Aber nur ein wenig – und leider zu wenig (siehe unten).

ZU EMPFEHLEN?
Grundsätzlich ja. Liest man nur den Raumschiffteil, hat man auf jeden Fall eine packende Geschichte goutiert, die man auch in heutiger Zeit deutscher SF nicht so oft präsentiert bekommt. Wenn man darüber hinaus vielleicht ein noch etwas dickeres Fell hat als ich, mag man vielleicht auch den Bruch, der mich enttäuscht hat, überwinden – oder gar gut finden.
Insgesamt habe ich das Buch von Anfang bis Ende gerne gelesen, trotz allem. Es hat was.

NOCH WAS?
Ich habe das E-Book im Rahmen meiner Arbeit für den DSFP 2016 gelesen. Stünde der erste Teil – der Raumschiffplot – für sich alleine, wäre das Buch für mich ein Nominierungskandidat. So jedoch muss ich die Nominierung einem meiner Komiteekollegen überlassen – und würde mich dann an einer Entscheidungsfindung durchaus positiv beteiligen.

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