Leselust, nicht aufzuhalten

Liz Jensen
DIE DA KOMMEN
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2013, Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg, Paperback, 316 Seiten, ISBN 978 3 423 24960 7

VORBEMERKUNG

Ein »Thriller« soll es sein, soviel steht vorne drauf. Und soviel kann ich sagen: Es _IST_ in der Tat ein Thriller. Ein besonderer noch dazu.

WORUM GEHT ES?

Kinder beginnen, Erwachsene zu töten. Erwachsene beginnen, Sabotage zu begehen. Der Anthropologe Hesketh Lock wird als Mitarbeiter einer Beratungsfirma beauftragt, solche Sabotagefälle zu untersuchen und herauszufinden, welche Ursachen es gibt – und welche Zusammenhänge.
Und er findet Zusammenhänge …

WAS GEFIEL NICHT?

Nichts. Jedenfalls nichts am Buch.

Nicht gefallen hat mir ein Teil der Buchrückseite. Da wird in bester deutscher Verlagsmanier auch eine prominente Quelle und deren Einschätzung zitiert. Hier schrieb The Daily Mail: »Ein kühner Roman, der Momente des eiskalten Horrors mit solchen voll trockenem Witz verbindet, temporeich und absolut packend.«
Dass ich den Roman nicht für »kühn« halte, ist meine Einschätzung. Aber in diesem Roman »Momente voll trockenem Witz« (es heißt übrigens richtig: »voll trockenen Witzes«) gefunden haben zu wollen, lässt mich allenfalls darauf schließen, dass der Autor der Besprechung ein ausgesprochen dummes Arschloch gewesen sein muss, der zu den Teilen der irdischen Bevölkerung gehört, die – freilich frei jeglicher Erkenntnis, worum es dabei überhaupt geht – das Verhalten eines Asperger-Autisten lustig finden. Solche Leute finden auch den Fäkalhumor eines Ben Stiller oder Johnny Knoxville lustig. Naja, Amis halt.
An Verlegerstelle würde ich mir jedenfalls überlegen, ob ich solche Zitate ungeprüft übernehme. Denn ich gehe mal davon aus, dass die Übereinstimmung dieses Zitats mit dem Werk seitens des DTV nicht überprüft wurde. Und wenn doch … naja, dann siehe vorher.

WAS GEFIEL?

Das ist schwierig zu formulieren. Zu sagen, alles hätte mir gefallen, ist beinahe noch zu wenig.

Der Schreibstil – sicherlich auch beeinflusst durch die Übersetzung, aber die passen sehr offensichtlich gut zusammen – ist in höchstem Maße packend, der Roman ist irrsinnig spannend, und selbst ab dem Moment, ab dem man als Leser glaubt, zu wissen, wie es weiter und zu Ende geht, blühen einem immer wieder neue Überraschungen – bis ganz zum Schluss.
Und noch ein Aspekt des Schreibstils ist bemerkenswert: Mit kürzesten, knappsten, nie auch nur annähernd ausschweifen wollenden Formulierungen schafft es die Autorin, ein dichtes Bild der Welt und der Handlung zu weben. Es bleiben keine Fragen offen, wo man sich befindet und wie es dort aussieht, was geschieht und was es für Folgen hat.

Die Figuren sind ebenso knapp beschrieben wie die Welt und die Handlung, aber es fehlt ihnen an nichts – auch nicht an Tiefe.
Insbesondere die Hauptperson ist nahezu perfekt. Denn Hesketh Lock ist nicht irgendein Anthropologe – er ist Asperger-Autist (und damit verrate ich kein Geheimnis), und als solcher geht er seine Aufgaben nicht nur aus ganz besonderen Blickwinkeln an, sondern auch mit ganz besonderen Fähigkeiten. Und die Art und Weise, wie diese Geschichte geschrieben ist, hat einen erheblichen Anteil an ihrer Qualität: Lock ist Ich-Erzähler, und seine Passagen spielen in der Gegenwart. Das führte für mich immer wieder zu dem Eindruck, mittendrin zu sein.

Über die Handlung und insbesondere Details dazu will ich nicht viel verraten. Immerhin sei gesagt, dass der Thriller nicht nur mit Horrorelementen ausgestattet ist, sondern meines Erachtens auch der Science-Fiction zuzurechnen ist. Es geht ganz nebenbei immer wieder um eine von einem japanischen Institut bestätigte Entdeckung des CERN, dass nämlich Neutrinos in der Zeit »zurückreisen« können. Im Roman selbst wird das immer wieder erwähnt – und gleichzeitig wird dem Leser verheimlicht, dass es sich bei dieser wissenschaftlichen Erkenntnis um ein durchaus tragendes Element des Romans handelt (aber auch hierzu verrate ich nicht zu viel). Und dass das Werk eine Thematik, wie sie sich auch in Dirk C. Flecks »GO! – Die Ökodiktatur« oder »Das Tahiti-Projekt« zwar aus einer völlig anderen Richtung – und sicher auch einem ganz anderen, düstereren Schwerpunkt – nähert, das will ich hier nur als zusätzlichen Leseanreiz erwähnen.

ZITAT GEFÄLLIG?

Zur Figur des Hesketh Lock hätte ich einige Zitate zu bieten (aber das Buch steckt, wie angedeutet, voll mit dieser Figur). Bemerkenswert ist eben vor allem die (für uns Normalmenschen) »typisch« erscheinende Detailfixiertheit eines Asperger-Autisten, die uns gerne an den (nicht am Asperger-Syndrom leidenden) »Rainman« erinnert; wobei es weniger um Detailmenge an sich zu gehen scheint, als darum, wie abwegig das scheint, worauf sich der Protagonist zu konzentriert:

Ich habe meine festen Rituale. Fünfeinhalb Minuten bis zum Tor. Neun Minuten über den Schafpfad. Eine Pause von dreißig Sekunden an dem rautenförmigen schwarzen Felsbrocken mit den glänzenden Seiten und über die Klippe nach unten, wo sich eine Reihe von Bäumen im Wind krümmt. Dann ans Ufer. Der Großteil der Insel ist felsig und trocken, doch in diesem Bereich saugt das Sumpfland die Flüssigkeit hungrig wie ein Schwamm auf und atmet Methan aus. Das fossile Gas steigt in winzigen Champagnerbläschen an die Oberfläche, entzündet sich und tanzt mit flackernden blauen Lichtranken umher. Man kann es sehen, wenn sich wie jetzt am Spätnachmittag die Dunkelheit verdichtet. In alter Zeit nannte man sie Irrlichter und erklärte sie zum Werk von Kobolden. Ein anderer Volksglaube besagt, es seien wilde Feenkinder, die sich hier herumgetrieben hätten. Manchmal hätten sie ihren Platz mit Menschen getauscht und als Wechselbälger weitergelebt.
(Seite 50)

»Danke, gut, Ashok«, antworte ich. Ich vermute, dass sich der Ausdruck »wie steht’s« ursprünglich auf den Penis bezog. Ich stelle mir Ashok vor, wie ich ihn so oft auf dem Bildschirm sehe, die Hemdärmel aufgerollt, die Füße auf dem Schreibtisch, leicht gepixelt und zeitverschoben. Er hat seine Hautfarbe einmal als Starbucks Latte beschrieben, doch als ich eine Farbkarte an sein Handgelenk hielt, musste er mir zustimmen, dass Gebrannte Umbra der Firma Sanderson der Wahrheit näher kommt. Die Familie seiner Mutter stammt aus Mumbai und sein Vater aus Kaschmir, aber Ashok, dessen Name »ohne Traurigkeit« bedeutet, wurde in Florida geboren und bezeichnet sich als »waschechten Yankee«. Das ist natürlich ein Witz.
(Seite 53)

Auch die Wiederholungsstrategie eines Asperger-Autisten gilt seit »Rainman« als ein typisches Merkmal des Autismus. Im Roman taucht dieses Element immer wieder auf:

»Sunny Chen ist tot. Sunny Chen ist tot. Sunny Chen ist tot.«
(Seite 59)

Seine Anwesenheit hatte mir keine Angst eingejagt.
Nur die Unmöglichkeit seiner Anwesenheit. Ich besitze keine Strategie, um mit etwas umzugehen, das sich eisern jeder Einordnung, Quantifizierung oder Logik widersetzt: etwas, das sich so hartnäckig weigert, in irgendeines der Diagramme zu passen, die ich in meinen Gedanken gezeichnet habe.

(Seite 130)

Gleichzeitig ist an diesen Zitaten (hoffentlich) der Stil des Buches zu erkennen: kurz, knapp, prägnant, ohne Umschweife (und das mag paradox scheinen, angesichts des Autismus des Protagonisten, ist es aber nicht), schnell und zielgerichtet.

ZU EMPFEHLEN?

Unbedingt. Als Thriller, als SF-Werk, als spannendes Stück Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang und dem Potenzial, nachdenklich zu machen.
Für mich ist das Buch ein Erlebnis gewesen. Es gelingt mir selten, ein Buch in einem Stück an einem Tag zu lesen – hier ist es gelungen, und das mag auch als ein (Teil-) Qualitätsmerkmal gelten.

NOCH WAS?

Es ist schade, dass der Roman nicht von einer deutschen Autorin stammt. Wäre das der Fall gewesen, wäre das Werk in meinen Augen _DER_ Kandidat für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2014.

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