Ted Chiang
DIE HÖLLE IST DIE ABWESENHEIT GOTTES
Deutsche Erstausgabe, Golkonda Verlag, Berlin, 2011, Klappbroschur, 181 Seiten, ISBN 978 3 942396 12 7
VORBEMERKUNG
Das Buch war mir im Rahmen der Verleihung des Kurd-Laßwitz-Preises 2013 auf dem PentaCon in Dresden empfohlen worden. Wärmstens. Ich wagte den Kauf. Und die Lektüre.
WORUM GEHT ES?
Fünf Geschichten finden sich in diesem Buch, das den KLP 2013 als bestes ausländisches Werk der SF mit deutscher Erstausgabe 2012 (auch wenn im Impressum 2011 steht) gewonnen hat: »Der Turmbau zu Babel«, »Geschichte deines Lebens«, »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes«, »Der Kaufmann am Portal des Alchemisten« und »Ausatmung«. Am Ende des Buches findet sich noch ein Quellenverzeichnis.
Der Turmbau zu Babel ist ja nun eine Geschichte, die wir Westeuropäer, wir Angehörigen christlicher Glaubensrichtungen, alle irgendwie kennen: Die Babylonier wollten diesen Turm bauen, um Gott nahe, näher sein zu können, und Gott strafte ihr Tun mit der Sprachverwirrung. Chiangs Geschichte geht anders, und doch … geht sie wirklich anders? Sie wird anders erzählt. Es gibt keinen zürnenden Gott, der strafend auf die babylonischen Frevler herniederfährt und ihnen die Fähigkeit nimmt, sich miteinander zu verständigen. Aber dennoch gelangt auch der Protagonist der Chiangschen Geschichte nicht zu Gott, sondern an einen ganz anderen Ort, einen, den er schon kennt … – Die Geschichte hat mich schwer beeindruckt. Ich bin ein Mensch, der unter Höhenangst leidet, und ich habe manchmal sogar Probleme, Filme anzuschauen, die damit spielen; ich habe jedoch noch nie eine Geschichte gelesen, bei der mir mulmig bei der Vorstellung wurde, um welche Höhen es da ging. – Und mal ganz davon abgesehen war für mich die außergewöhnliche Sicht auf diese Dinge, die für mich als getauften Katholiken ein Teil meines nicht ausgeprägt religiösen, aber doch vorhandenen Selbstverständnisses sind, ausgesprochen anregend.
»Die Geschichte deines Lebens« hat mich spontan an Nivens und Pournelles »Der Splitter im Auge Gottes« erinnert, obwohl der Roman mit dieser Geschichte nicht wirklich viel zu tun hat. Es geht eigentlich um zwei völlig voneinander unabhängig Handlungsstränge. In dem einen wird der Kontakt der Menschen mit den sogenannten Heptapoden geschildert, einhergehend mit den Versuchen, sich miteinander zu verständen, und ebenso einhergehend mit Erkenntnissen über völlig andersartige Auffassungen dessen, was wir gerne als Realität bezeichnen. Parallel dazu gibt es … wie soll ich sagen: die Ansprache einer Mutter an ihre Tochter, Erinnerungen an eine vergangene Zukunft … Das Ausgefallene an diesem zweiten Handlungsstrang ist die Erzählzeit, die ich (mangels mir zugänglichem Fachterminus) durch ein kurzes Zitat darstellen möchte:
»›Warum?‹, wirst du fragen. Du wirst drei Jahre alt sein.
›Weil nun Zeit ist, ins Bett zu gehen‹, werde ich noch einmal sagen. Wir haben es bereits geschafft, dich zu baden und dir deinen Schlafanzug anzuziehen, aber weiter sind wir noch nicht bekommen.
›Aber ich bin nicht müde‹, wirst du jammern. Du wirst vor dem Bücherregal stehen und eine Videokassette, die du anschauen willst, herausziehen: […]«
Wohlgemerkt: Das sind erzählte Erinnerungen dieser Mutter, geschildert als Ereignisse in der Zukunft. Diese Passagen der »Geschichte deines Lebens« hatten etwas sehr viel Magnetischeres an sich als die Heptapoden-Geschichte, obwohl die auch schon magnetisch genug war.
In der Titelgeschichte geht es um Engelserscheinungen – die oftmals eher verheerende Folgen nach sich ziehen – und (letztlich auch) Gottesentscheidungen, und die Geschichte hat mich ausgesprochen ratlos zurückgelassen, nicht, weil ich sie nicht verstanden hätte, nicht, weil sie mir nicht gefallen hätte, nichts von alledem – ich bin immer noch ratlos angesichts des Versuches, mir selbst vorzustellen, welche Sensationen im Geist eines Menschen – hier des Autors Ted Chiang – vor sich gehen, der zur Beschreibung einer solchen Welt fähig ist. Ratlos, ja … und eigentlich auch sprachlos.
Im Grunde beschreibt Chiang das Leben mehrerer Personen, solche, die nach Gott suchen und ihn nicht finden, solche, die Gott nicht suchten und ihn fanden, aber nicht glücklich mit dem Ergebnis waren und sind, über die unterschiedlichsten Kombinationen … nein, Schicksale in dieser Hinsicht, wie sie miteinander korrelieren und was am Ende dabei herauskommt. Oder auch nicht.
Die Schicksale, die Chiang beschreibt, sind nicht schön. Seine Beschreibungen sind sensationell. Was der Wirkung der Schicksale auf den Leser (und seine Stimmung) nicht unbedingt gut tut.
»Der Kaufmann am Portal des Alchemisten« ist, wenn man es genau nimmt, eine Zeitreisegeschichte, aber natürlich wäre Chiang vermutlich nicht Chiang, wäre diese Zeitreisegeschichte so einfach wie … Wells’ »Die Zeitmaschine« zum Beispiel.
Ein Mann erzählt einem Kalifen Geschichten von Menschen, die sich mittels eines (Zeitreise-) Portals in der eigenen Vergangenheit Vorteile für ihr Leben zu verschaffen suchten und verschafften – und was dabei für sie am Ende herausgekommen ist. Der Mann, der erzählt, ist selbst einer dieser Menschen.
Die Anmutung dieser Geschichte ist sehr märchenhaft. Möglicherweise hätte die Geschichte ohne weitere Änderungen auch problemlos in die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht gepasst. Möglicherweise ist diese Geschichte am Ende auch nichts anderes als eine ganz neue, ganz andere Variante der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.
»Ausatmung«, am Ende die kürzeste Geschichte des Bandes, ist auch die, die die fremdartigste Welt von allen in diesem Buch schildert. Selbst die Kontaktversuche mit den Heptapoden haben nichts annähernd Fremdartiges an sich, wie die Wesen, die aus Lufttanks atmen und in deren Gehirnen Kupferplatten die Arbeit verrichten. Diese Geschichte lässt den Leser von allen im Buch vorhandenen auch im Unklarsten über das, worüber Chiang schreibt. Die Geschichte selbst, der Versuch des Protagonisten, herauszufinden, was in einem Gehirn von seinesgleichen vor sich geht, ist eigentlich klassisch, sie hat etwas Viktorianisches an sich, man könnte sich bestens vorstellen, das Ganze als Steampunkplot zu betrachten, verfilmt zu sehen. Aber genau das ist es nicht. Das ist kein Steampunk. Das ist nichts Viktorianisches.
Das ist eine Geschichte über etwas, für die es möglicherweise gar kein Wort in unserer Sprache gibt.
WAS GEFIEL NICHT?
Nichts. Gar nichts.
WAS GEFIEL?
Alles. – Als Nichtleser von nichtdeutschen Originalen kenne ich die Originaltexte natürlich nicht. Aber ich habe bei der Lektüre der deutschen Übersetzungen von Alexander Müller aka molosovsky jederzeit das untrügliche Gespür dieses frenetischen Literaten für die richtige Wortwahl erfahren. Anders ausgedrückt: Wenn molo die Übersetzung nicht richtig gemacht hätte, hätte niemand anderes sie richtiger machen können. Die Texte wirken wie aus einem Guss, wie von Chiang genau so auf Deutsch geschrieben.
Über Chiangs Ideen habe ich oben schon genügend Andeutungen gemacht. Die Buchempfehlung, die mir auf dem PentaCon gemacht wurde, war jedenfalls eine wahrhaftige.
ZU EMPFEHLEN?
Unbedingt, unbedingt, unbedingt!
NOCH WAS?
Erwähnen möchte ich noch das sensationelle Erscheinungsbild des Buches. Es zu beschreiben, wäre schwer. Man muss das gesehen haben. Eine Klappenbroschur, innen randabfallende Grafiken, die unter anderem das Titelbildmotiv wiederholen, Kopfzeilen, »schlierende« Seitenzahlen (so als würde Licht Nachbilder auf der Netzhaut hinterlassen) … das ganze Buch ist schon von der Optik her ein Kracher.