Bemerkenswerte Erschütterung

Stefan T. Pinternagel
365 PLUS BONUS
2007–2008
MaroVerlag, Augsburg, 2009, Paperback, 88 Seiten, ISBN 978 3 87512 286 2

Ich hatte auch mal so eine Idee, so was ähnliches. »Die Dreiundvierzigminutenereignisse«. Storys, die innerhalb von jeweils dreiundvierzig Minuten entstanden, einfach so runtergeschrieben, ohne großes Nachdenken, Redigieren, Schleifen, Zurechtbiegen, erstmal einfach nur schreiben, Zeit läuft.

Pinternagel, der wohl auch in der Szene fantastischer Literatur kein Unbekannter ist – ohne dass ich jetzt genauer recherchiert hätte, aber irgendwas sagt mir der Name – hatte die Idee, ein Jahr lang jeden Tag einen Satz aufzuschreiben. Er hat sich dann nicht ganz dran gehalten, das heißt, es sind mehr geworden – daher »plus Bonus« im Titel.
Anfangs liest sich das Stück wie erwartet, weniger sinnvoll, eher slapstickhaft, Tagesblitze, einfache Gedanken, die man als Einzelstücke nicht in einem Gesamtkontext sehen kann, weil ein in einen einzelnen kurzen Satz gefügter Tag praktisch nicht wirklich etwas schildert – das ist wie die Tagesschau, deren Kürze selbst die objektiv dargebotensten Nachrichten verfälschen muss. Nacheinander gelesen, unter Berücksichtigung der Unterstellung, dass hier wirklich nur ein Satz an einem Tag geschrieben wurde – was dann irgendwann auch nicht mehr stimmte, wie der Autor zugibt – ergeben sie nicht mehr Sinn, sind eher noch unglaubwürdiger, denn ich zumindest könnte mich nicht auf einen Satz pro Tag beschränken, ums Verrecken nicht. (Aber als Vielschreiber bin ich ja verschrien, jedenfalls unter denen, die mich und das kennen.)
Bis zum 296. Tag ist das ganze Stück eigentlich … naja, ganz nett zu lesen, ab und zu mal witzig, ab und zu amüsant, ab und zu auch nur albern, ab und zu gar überflüssig. Im Grunde ist das Stück bis da hin genau so, wie ich es erwarten würde, würde mir jemand von Pinternagels Idee erzählen. Ich würde wissen, dass ich das auch so machen würde, nicht mit den gleichen Inhalten, aber mit einem sehr ähnlichen Endergebnis, was seine Gesamtwirkung angeht.
Am 297. Tag wird alles anders. Krebs wurde diagnostiziert, und auch wenn Pinternagel nicht daran gestorben ist, das Büchlein ist ab diesem Tag auf eine erschütternde Art und Weise so anders, wie es wohl auch Pinternagels Leben ab diesem Zeitpunkt war. Die eigene Reaktion auf diesen harten, gnadenlosen, brutalen und trotz Vorworts völlig unvorbereiteten Wechsel ist Fassungslosigkeit und beim 298. Eintrag das Einschießen von Tränen in die Augen. Danach ist, wie gesagt, nichts mehr wie vorher –

So profan und banal das Büchlein anfangs war, dieser an Realitätsgehalt schwerlich zu überbietende Szenenwechsel macht das Werk – bemerkenswert. Es ist nicht schön, nicht toll, nicht gut, es ist erschütternd. Und bemerkenswert. Das ist das einzige Wort, das das Buch für mich korrekt umschreibt.
Bemerkenswert.

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