Eine Schande für die Zunft

oder
Ali Schanda und die Pfirsichschreiba

Erich Schanda (Hrsg.)
NACHTFAHRT
40 Geschichten von 40 Autoren, Anthologie, Lerato Verlag, Mai 2006, Umschlag: Hartmut H. W. Köhler, 236 Seiten, Paperback, ISBN 3 938882 09 3 bzw. 978 3 938882 09 2

Der Lerato Verlag existiert nicht mehr. Er ist nicht mehr aktiv, nicht mehr aufzufinden – und die Domain www.lerato-verlag.de ist geparkt. Ich hatte vom Lerato Verlag noch kein Buch in der Hand, auch wenn mich der Verlag – und die Versuche, Kontakt herzustellen – im Zusammenhang mit dem von Alisha Bionda weiland herausgegebenen Kurzgeschichtenband »Die Himmelspfeifer« schon beschäftigte. Doch nun, nachdem ich dieses Buch in Händen halten durfte – musste? – und gelesen habe, bin ich davon überzeugt, dass es gute Gründe hatte, warum sich die Leratos fast schon klammheimlich aus dem Staub machten.

Wäre ich als Autor an dieser Anthologie beteiligt gewesen, hätte ich den Verlag zur Rechenschaft gezogen – auch finanziell; vielleicht war ja auch das der Grund für das Verschwinden. Dieses Buch jedenfalls ist eine Zumutung sondergleichen, eine kaum mehr wahrhaftig zu beschreibende Schande für die Zunft der Kleinverleger – und für alle anderen Arten von Verlegern gleichermaßen.
Es hat bei diesem Buch keinerlei Korrektorat gegeben; allenfalls die Autoren haben noch dafür gesorgt – was man manchmal erkennen kann –, dass die Fehlerquote in ihrem Werk nicht ganz so hoch ausgefallen ist wie in anderen. Die Rechtschreibfehler treten in einer grottigen Masse auf, die mit »Unverschämtheit« nicht mehr korrekt bezeichnet ist. Einhergehend mit einem stümperhaften Layout – es gibt reichlich Hurenkinder und Schusterjungen, die Anführungen sind mit »66 oben, 99 oben« durchgehend falsch (richtig wäre »99 unten, 66 oben«, was man z. B. dadurch erreicht, dass man die Sprache eines Textes auf »deutsch« einstellt, woraus dann auch die Möglichkeit einer ordentlichen Rechtschreibfehlerkorrektur selbst mit einfachsten Word- oder OpenOffice-Möglichkeiten resultiert), und die Trennfehler sowie die paritätische Kommasetzung erledigen den Rest – ergibt sich ein indiskutables optisches Bild, denn dieser Schutthaufen, der sich Buch schimpft, fällt mit seinen Unzulänglichkeiten sofort und unübersehbar ins Auge.
Was jedoch weitaus schlimmer ist, ist die Tatsache, dass es auch keinerlei Lektorat gegeben hat. Es entzieht sich meiner Kenntnis, welchen Sinn es haben sollte, einen Autor mit seinem Werk ohne jegliche Hilfestellung vor die Wand rennen zu lassen und ihn in einer Weise der Lächerlichkeit preiszugeben, die nur auf den Verlag zurückfallen dürfte, es aber leider in der Realität in den seltensten Fällen tun wird. Was auch immer der Herr Verleger damit zum Ausdruck bringen wollte – gegenüber den Autoren, gegenüber den Lesern oder gegenüber beiden –, es war nichts, das man zu irgendeinem Zeitpunkt auch nur annähernd positiv einstufen konnte und könnte.
Und selbst wenn der Verlag sich nachträglich auf den Herausgeber zurückziehen könnte, von dem man ja eigentlich auch erwarten können sollte, dass er sich um die – ggf. notwendige Herstellung von – Qualität bemüht, bleibt es letztendlich dabei, dass diese Anthologie insgesamt zum Schaden aller beteiligten Autoren geraten ist, so oder so oder so.

  • Erich Schanda, Vorwort: Der Herausgeber legt das Thema fest. Eigentlich geht es um »Angst«, die sich u. a. in der Dunkelheit manifestiert. Die Anthologie soll sich mit der Angst vor Dunkelheit, vor der Nacht beschäftigen – vor dem Hintergrund einer Nachtfahrt. Ein sehr beengtes Sichtfeld, aber gut …
  • Frank Lauenroth, Irrläufer: Die Geschichte um zwei Trucker und ein – vermeintlich – vergewaltigtes Mädchen ist handwerklich okay; leider ist der Gag sehr vorhersehbar.
  • Michael Wehrmann, Eine Liebe und eine Nacht: Psychedelisch verschwurbelte Erinnerungen eines Alkoholikers an seine Ex.
  • Peter Nathschläger, Ich könnte dich lieben: Eine Schwangere auf dem Weg zu einer Abtreibung begegnet ihrem Sohn. Toll. Obwohl das Ende vorhersehbar wird, reißt die Stimmung alles raus.
  • Robert Herbig, Lea: Solide, nette Beziehungskistenstory.
  • Claudia Kathe, Farida: Etwas konfuse Mysterygeschichte, wenig beeindruckend.
  • Chris Stone, Eine stürmische Nacht: Albtraum um einen Unfall, sehr konservativ, sehr amerikanisch – nicht mehr als halb durch.
  • Rainer Innreiter, Elysium Planitia: Der Autor ist als Routinier bekannt und so ist auch seine Story: routiniert und okay, wenn auch – nicht nur wegen des Mars-Plots – am Thema vorbei.
  • Matthäus Krol, Eisbären leben länger: Pseudocooles amerikanoides Junkieding mit total unverständlichem Plot und noch unverständlicherem Ende. Ich wohl vermutlich zu alt für den Scheiß.
  • Manuela Deutschland, Riesenrad des Schicksals: Anfängerstory. Abhaken.
  • Andreas Lehmann, Ein Wiedersehen: Szenisch, einfach, unspektakulär, aber eine ordentliche Arbeit, die zum Weiterdenken einlädt.
  • Anita Römgens, Der Spaziergang: Mystery mit zu früh erkennbarem Gag, ansonsten ordentlich gemacht.
  • Hanns Schneider, Keine besonderen Vorkommnisse: Erotische Fantasie mit Hindernissen, dämlichem Ende und Potenzial für mehr.
  • Hella Mau, Orkan – Die Nacht der Nächte: Geschichte einer beschissenen Seereise, mit hier ganz besonders beschissenem Korrektorat – sofern man mangels jeglichen Vorhandenseins das so sagen kann – und ebensolch beschissenem Lektorat – wie vorher –, das ist an Unverschämtheit wirklich nicht mehr zu überbieten.
  • Christian Savoy, Der Grenzgänger: Niedliche, abgedrehte Story um einen Sterbenden und seine letzte Zeit. Gut.
  • Jan Thiede, Durch die Nacht: Das Leben als Bahnfahrt; profan, etwas klugscheißerisch, aber genehm geschrieben.
  • Kai Schnattinger, Der Zuhörer: Beeindruckende Bilder vor unverständlichem Hintergrund – sorry …
  • Margit Rosenberg, Weihnachtliche Talfahrt: Hannes Weihnachtsmann mit Riesenproblemen und einem besonderen Geschenk; eine Geschichte voll anrührender Klischees.
  • Martin Platzer, Meine Klavierspielerin: Anhalterin mit Unfall und Déjà-vu; vorhersehbar, aber nicht unspannend geschrieben.
  • Michael Wehrmann, Eine Liebe und eine Nacht: Identisch mit der zweiten Geschichte. Da war ein klassischer Stümper am Werk.
  • Mirko Kussin, Die Stadt besiegen: Esoterischer, pseudophilosopischer Scheiß? Egal – auf jeden Fall unverständlich.
  • Sabine Brandl, Laura: Laura ist 13 und fluchtgefährdet. Nette Geschichte, bei der man eigentlich ein anderes Ende erwartet hätte.
  • Simone Jöst, Hinter fremden Türen: Horrorstückchen, nix für Arachnophobiker, kurz, knackig, nett.
  • Sven André Dreyer, Asphaltnacht: Krimi mit Mystery, sehr verschlüsselte, aber stimmige Story: toll!
  • Thomas Mühlfellner, Zwischen Abfahrt und Ankunft: Begegnung zweier Menschen auf einer langen Zugfahrt; leider langatmig und mit blödem Ende.
  • Tobias Herrmann, Neujahrsfest: Fiese Story, schön abstrus, leicht schrill, mit einem offensichtlichen, aber nicht heruntererklärten Ende. Feines Teil!
  • Angelika Pauly, Im Jenseits: »Der Himmel ist das ewige Leben auf Erden.« Naja. Eine Schreibübung, mehr nicht.
  • Astrid Pfister, Die Fahrt ins Ungewisse: Man sollte sich überlegen, was man sich wünscht. Nettes Ende, wenn auch nicht ganz fern jeglicher Vorahnung.
  • Eva Markert, Von Thorgils Blut: Fantasystückchen mit historischen Elementen, leidlich gut; verfilmt käme das Ganze vermutlich besser.
  • FREEMAN, Linie 4: Story um eine durchgeknallte Straßenbahn – da bewahrheiten sich alle Vorurteile gegen den öffentlichen Nahverkehr. Die letzte Haltestelle hat der Autor falsch benannt – er meinte wohl eher Hades denn Rubikon.
  • Hartmut W. H. Köhler, Mantis Religiosa: Action und Suspense mit einem Geheimdienstler und einer geilen Kellnerin. Das wohl beste Stück in der Sammlung.
  • Juliane Wellisch, Sei versichert, dass: Monolog an eine unbekannte Person – die Ex oder der Tod? Unklar, aber vielleicht macht das auch gar keinen Unterschied.
  • Maren Frank, Nachtzug: Bei der Geschichte habe ich zuerst überlegt, ob das »meine« Maren Frank :) geschrieben hat. Die in einem Zug spielende Krimistory lebt stark auch von ihren Klischees – eine Matrone als Gefängniswärterin :) –, aber die Geschichte hätte dringend ein Lektorat gebraucht, weil die Unstimmigkeiten viel verderben. So halte ich es für fraglich, dass ein ICE – wenn es sich nicht um einen Tippfehler handelte, was ich aber nicht annehme, denn auch ein einfacher IC kommt da nicht in Frage – von München nach Köln 11 Stunden brauchen soll. Und der Zug kann auch von Detailbeschreibungen her schwerlich ein ICE sein, denn diese fahren mit Großraumwagen, die allenfalls am Waggonanfang und -ende Abteile haben – oder in der 1. Klasse. Und spätestens, wenn die Abteile mit 6 oder 8 Plätzen als ganze Wagen beschrieben werden, dann erkennt man, dass hier schlicht Fehler unterlaufen sind, die man hätte korrigieren können, ohne den Plot zu beschädigen, und auch korrigieren müssen, weil er nun auf andere Art Schaden genommen hat. Und das ist: schade.
  • Marion Feiler, 180: Geiler, kleiner Plot, so schnell, wie der Titel andeutet, mit einem uralten, aber hundertprozentig passenden Gag am Ende. Gutes Teil.
  • Martin Skerhut, Protokoll einer Nacht: Guter Stil, angenehm zu lesen, Plot okay, Ende etwas aufgesetzt – was aber auch am Thema liegen kann, Vampire sind einfach soo ausgelutscht …
  • Mike Dargel, Der Teufelskreisel: Schwer gestelzter Bilderreigen, ein Anfall von Verbalkannibalismus. Der Plot mit dem Taxifahrer im Teufelskreis(el) ist sehr gut. Nummer 2 in meiner Hitliste.
  • Sandra Knapp, Gebrochen: Konfuses Horror-Mystery-Ding um nichts. Keine schlüssige Erklärung, das Verhalten der Hauptfigur ist durchgehend unlogisch. Die Geschichte ist Zeitverschwendung.
  • Steffi Beckmann, Zugfahrt mit dem Tod: Holocaustischer Plot, der in pseudoantifaschistischem Klischeegemantsche endet. Die übelste Sorte von Antifa-Kacke, die man sich vorstellen kann: Klischee pur, Wahrheit null, ein Stück Unrat auf Kosten jeglicher Wahrhaftigkeit, fast schon eine Auftragsarbeit des Zentralrats. (Und Waggon, Schätzchen, schreibt man Waggon, nicht Wagon.)
  • Thomas Heindl, Ananastransport: Episodenstory, die sich von Figur zu Figur durch eine am Ende unklare, diffuse Laberhandlung hangelt. Bestenfalls Platzverschwendung.
  • Thomas Steiner, Birnau: »Mondsucht« für Schreibanfänger. Schönes Bildchen, aber total sinnlos.
  • Dagmar Göbel, Nur ein Gefühl: Eigentlich ein schöner Plot, geschrieben in durchaus gutem Stil – das Ende aber ist ein pures Klischee und wie bei einem Sketch aufgeklebt. Dazu kommt noch ein wenig Zuviel »typisch Frau«.
  • Erich Schanda, Nachtfahrt: Routiniert geschrieben, sehr russisch-melancholisch, ruft Erinnerungen an Tarkowskij-Filme hervor. Eine eindeutige Bewertung fällt schwer, tendiert aber in Richtung »positiv«.

Das Programm der Anthologie ist, wie man erkennen kann, sehr gemischt, sowohl thematisch als auch stilistisch, wobei eben das Gesamtwerk unter fehlendem Korrektorat und Lektorat zu leiden hat. Insgesamt würde ich die Grundidee als durchaus griffig und umsetzungsfähig bezeichnen, wenn auch viele der Autoren mit ihren Ansätzen einer nächtlichen Auto- oder Zugfahrt insgesamt ein wenig zu kurz gegriffen haben, aber in der vorgelegten Form haben Verlag und Herausgeber gemeinschaftlich ihr Pulver patschnass verschossen. Und selbst wenn man das Buch als Sammlerstück begreifen wollte, weil es den Verlag ja nicht mehr gibt und nicht gewiss ist, ob man das Werk noch lange bekommt … nein, lieber nicht.
3 von 10 Punkten für die Mischung, und für die Verlagsdienstleistungen an den Autoren und am Leser die Todesstrafe.

One Reply to “Eine Schande für die Zunft”

  1. Hallo Michael,

    ich habe zufällig diesen Eintrag entdeckt und auch wenn er schon etwas älter ist, habe ich mir erlaubt auf meinem Blog darauf hinzuweisen.

    Liebe Grüße
    Martin