Aus dem VDS-Infobrief vom 20.03.2023:
Rassismusvorwurf gegen Abiturlektüre
Eine Ulmer Lehrerin hat eine Petition gegen den Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen gestartet, nachdem sie über dessen häufigen Gebrauch des „N-Worts“ erschrocken und schockiert war. Als selbst von Rassismus Betroffene bezeichnet sie diese Wortwahl als Ausdruck der Unterdrückung und Entmenschlichung, die einen unmittelbaren Angriff auf ihre Menschenwürde darstelle. Das Land Baden-Württemberg begründet die Auswahl des Werks als Pflichtlektüre unter anderem damit, dass auch der beschriebene Rassismus in der Schule thematisiert werden solle. Dem widerspricht die Literaturprofessorin Magdalena Kißling von der Universität Paderborn: Die Lehrkräfte sollten das zwar vermitteln, seien aber oft nicht dafür ausgebildet, Rassismus in der Literatur zu erkennen: „Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen.“ Außerdem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht noch nicht ausgereift genug, sagt Kißling. Die Lehrerin möchte das Buch in der Schule nicht behandeln und hat darum vorerst einen Antrag auf Beurlaubung gestellt. Für die Zukunft hofft sie, dass der Unterricht bald zu einem „sicheren und rassismusfreien Ort für alle“ werde. (swr.de)
Und der Kommentar dazu:
Böse Literatur
Wie uns der Fall in Ulm lehrt, stehen die gymnasialen Lehrkräfte unter Verdacht, sie seien nicht dafür ausgebildet Rassismus in der Literatur zu erkennen. Für die Macht von Sprache seien sie zu wenig sensibel. Zudem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht „noch nicht ausgereift genug“. Daraus folgt messerscharf, dass Bücher wie Koeppens „Tauben im Gras“ zu meiden sind wie die Pest. Zwar stellt sich dem laienhaften Elternteil ganz nebenbei die Frage, was Germanisten und Anglisten für das Lehrfach so lernen, wenn nicht den Umgang mit der Sprache und ihren Abgründen, aber dieser Einwand lenkt ab vom Wesentlichen: Also ist das Wahre, das Gute und Schöne demnach auf keinen Fall der bösen Literatur – die das Reale, das Hässliche schon mal beim Namen nennt – zu entnehmen? Eine rassismusfreie Welt entsteht durch Desinfektion der Sprachen? Und solchen Blödsinn glauben erwachsene Menschen? (Oliver Baer)