Wolfgang Brunner
CRYPTANUS – DER GERUCH DES TODES
Projekte Verlag Cornelius GmbH, Halle, 2009, Titelbild: Elena Ray/Odina (fotolia.com), Hardcover mit Schutzumschlag, 346 Seiten, ISBN 978 3 86634 771 7
Wilko Müller jr. ist ein Name im SF-Fandom. Mit seinem eigenen Verlag SOLAR-X hat er seinerzeit aus dem Osten frischen Wind in die Verlagsszene gebracht, und als Mitarbeiter des Projekte Verlags ist er wohl der Hauptgrund dafür, dass der Projekte Verlag einer der größeren SF- und Fantastik-Verlage im mittleren Segment geworden ist. Den vorliegenden Roman habe ich Wilko und Wolfgang, dem Autor, zu verdanken; und ich weiß, dass wenigstens Wolfgang schon ein wenig wepsig ist, wie meine Rezension ausfallen wird.
Kurz vorweg: Sie ist nicht durchgängig positiv. Leider, muss ich selbst sagen. Aber der Reihe nach.
»Was kommt nach dem Tod? Philip Goldman meint, an Menschen ihren bevorstehenden Tod riechen zu können. Zuerst stirbt sein bester Freund, dann seine geliebte Großmutter. In seinen Träumen gelangt Philip in eine Welt, die Abgrund genannt wird. Ein androgynes Wesen namens Parr begleitet Philip durch diese Traumwelt und eröffnet ihm, dass er sich in der Welt der Toten befindet. Es stellt sich heraus, dass Philip nicht den nahenden Tod von Menschen riechen kann. Er kann Seelen, die aus dem Reich der Toten geflohen sind, durch seinen Geruchssinn aufspüren. Diese Seelen nutzen den Augenblick aus, in dem ein Mensch stirbt und ergreifen von dessen Körper Besitz. Philip erfährt, dass Parr eine Art Schutzengel ist. Durch die Erlebnisse im Abgrund kommt Philip dem Geheimnis des Todes ein großes Stück näher. Immer mehr wird er von der Faszination der Welt der Toten ergriffen. Sein Weltbild ändert sich mit jedem Besuch im Abgrund. Er kommt einem Geheimnis auf die Spur, von dem kein Mensch sich je hätte träumen lassen.«
Das ist die Kurzbeschreibung bei Amazon. Tatsächlich ist der Plot des Romans nicht ganz so simpel, denn dieses Geheimnis, dem Phil auf die Spur kommt, hat es schon in sich. Die Grundaussage des Plots ist damit unausweichlich und ausnahmslos positiv. Wer gewillt ist – wie mindestens eine Rezensentin bei Amazon –, daran zu glauben, dass in diesem Werk auch nur ein Fünkchen Wahrheit stecken könnte, der hat im Prinzip gewonnen. Denn Brunners Grundaussage ist nichts anderes, als dass wir alle keine Angst vor dem Tod haben müssen. Im Gegenteil. Phil, dem Protagonisten, geht es jedenfalls so, dass er, je öfter und länger er sich im Abgrund aufhält, den Tod als Lebender – wie wir alle welche sind – eigentlich herbeisehnt, weil er ihm erstrebenswerter erscheint. Der Abgrund, der bei Weitem nicht annähernd so schrecklich ist, wie sich sein Name anhört, ist ein Sammelsurium aller möglichen Aufenthaltsorte von Toten, den ganz guten, die in den Himmel gehörten, den ganz bösen, die in die Hölle sollten, den Selbstmördern, den Todessehnsüchtigen, den dem Leben Nachhängenden usw. usf. Der Abgrund bietet jedem Toten etwas; und das, was wir Realmenschen als Himmel und Hölle kennen, das ist eigentlich menschlich-irdische Propaganda.
Und das eigentliche Geheimnis ist, dass es noch mehr gibt als Leben und Tod. Es gibt noch den Cryptanus, einen Zustand nach dem Tod – und die Halle der Vögel. Vier Stationen in der Existenz von … ja, von was? Einer Seele? Eines Bewusstseinsbits? Von was? Das wird nicht so ganz klar, auch wenn Brunner sich in seinen Darstellungen auf den Begriff der »Seele« zu verlegen scheint.
Letztlich spielt das keine Rolle. Wichtig ist – leider, wie eingangs angedeutet – anderes.
Das Buch könnte man als hervorragend gelungen bezeichnen, wenn der Autor nicht als nötig erachtet hätte, zwischen die als Rückblenden angelegten Schilderungen der eigentlichen Ereignisse immer wieder Einschübe aus der Jetztzeit – vielmehr: dem Jahr 2007 – machen zu müssen, in denen er den Leser anspricht, salbadert, Revue passieren lässt, was in den jeweiligen Kapiteln vorher passiert ist und immer und immer wieder verspricht, dass da noch mehr kommt, dass es noch spannend wird und so weiter, und so fort.
Gesteigert werden die Nervtötungsversuche noch durch in diesen Kapiteln ständig eingefügten Liedtexte von irgendwelchen Rock- und Musikgruppen; da helfen auch die Übersetzungen nicht, mir sagen die Bandnamen nichts und die Texte sprechen mich weder in Englisch noch in Deutsch an, ich halte sie für überflüssig. Und die Referenzen auf Filme – Herrschaftzeiten, wenn ich das machen würde, ich als Filmfan, dann wäre im Buch kein Platz mehr für die Handlung …
Diese »Der Traum vom Tod, Teil X« betitelten Kapitel kann man getrost überblättern, überlesen. Ein vernünftiger Lektor hätte sie vor den Augen des Autors rituell verbrannt. In der Tat: Würde ich dem restlichen Roman doch immerhin 9,5 von 10 Punkten geben, bleiben durch diese völlig überflüssigen und nervtötenden Passagen allenfalls noch 7 von 10 Punkten übrig.
Ein weiteres Manko in Brunners Schreibe finde ich in den Wiederholungen gleicher Sachverhalte in kurz aufeinanderfolgenden Absätzen, zwar unterschiedlich formuliert, aber dennoch zu deutlich den Pseudo-Déjà-vu-Effekt hervorrufen, dass man sich vorkommt, als hätte man genau das doch gerade erst gelesen. Nicht so nervig, wie die »Der Tod vom Traum«-Kapitel, aber negativ bemerkenswert. Da hat der Lektor gepennt.
Wer das Buch lesen möchte – und ich kann es im Grunde eben mit 7 von 10 Punkten empfehlen –, der sollte einfach die Kapitel aus 2007 weglassen. Es steht nix drin, die versauen nur den eigentlichen Genuss.
Es gibt darüber hinaus noch die üblichen, eher handwerklichen Punkte, die ich mir nicht verkneifen kann. Als da wären:
- Über den Kapiteln, die im Abgrund spielen, stehen jeweils Jahreszahlen. Im Abgrund gibt es keine Zeit. Hallo? Da hat der Lektor noch mal gepennt. (Und nein, Entschuldigung, es ist irrelevant, wann Phil, der Protagonist, meinte, im Abgrund gewesen zu sein … die realirdischen Ereignisse und deren vermeintlicher Zeitpunkt wären für die Erlebnisse Abgrund einfach irrelevant.)
- Es gibt jede Menge Tippfehler. Peinliche Tippfehler. Ich verstehe einfach nicht, warum ein Verlag, der das professionell macht, nicht zwei Leute an so ein Manuskript ran lässt.
- Und vielleicht wenigstens einen Mann oder eine Frau, die sich mit Rechtschreibung auskennt. Denn die Kommasetzung – auch in der neuen Rechtschreibung letzter Fassung essenzieller Bestandteil derselben – kann in diesem Roman allenfalls noch als paritätisch bezeichnet werden, als wären Autor, Korrektor und Lektor nach dem Prinzip vorgegangen: »Wir haben alle keine Ahnung und keinen Bock. Setzen wir einfach ein paar Kommas, es kann auch nicht falscher aussehen, als die neue deutsche Rechtschreibung falsch aussieht.« Das allerdings ist mindestens so nervig wie die 2007er Todtraumkapitel. (Und hallo? Wann kapiert ihr Nasen endlich, dass Apostrophe Apostrophe sind und dass man für Apostrophe die ALT-Taste und einen Zahlencode verwendet – und die die französischen Accents? Mein Gott, so was wollen Profis sein?)
- Das Layout ist unruhig. Der Setzer hat offensichtlich nicht gelernt, dass man Trennungen nicht nur einer Software XYZ überlassen muss, sondern dass man auch Hand anlegen kann – bzw. sogar sollte. So strotzt des Buch vor aufgerissenen Zeilen, vor Absatzpassagen, die aussehen, als seien sie halb gesperrt usw. Ich kenne das. Ich arbeite selbst mit der Laufweite von Schriften, um Absätze an einen Seitenumbruch anzupassen, damit man Hurenkinder und Schusterjungen vermeidet, usw. usf. Aber zuerst macht man den Zeilenumbruch, dann den Seitenumbruch. Hier ist leider beides nicht oder jedenfalls nicht richtig gemacht worden. Zusammen mit einer nicht richtig schönen Serifenschrift wirkt das Layout jedenfalls unangenehm und irritierend unruhig.
- Hinzu kommt, dass Absatzeinrückungen fehlen. »Fauler Hund«, mag ich dem Setzer zurufen und mit einem Seitenblick nach dem rostigen Messer suchen.
- Der Druck ist ungleichmäßig. Er ist insgesamt zu schwach und er neigt dazu, im oberen Drittel der Seiten noch schwächer als im Rest zu sein. Und das ist nicht mal subjektiv.
- Die Bindung des Hardcovers ist gefaked. Das ist eine von diesen Billigbindungen, die Martin S. aus H. so gerne hat. Hier kann ich seine Unleidenschaft nachvollziehen, denn zumindest der Buchrücken bildet auch bei schonender Behandlung – ich bezeichne mich bei Amazon gerne als »Buchrückenqualitätsbewahrungsparanoiker« o. ä. – an den Falzen unangenehme Knubbel. Unhübsch.
Naja. Das sind so die üblichen Penibilitäten, die ich auf Lager habe. Früher ist mir so was nicht aufgefallen, zugegeben, da war ich offensichtlich leidensfähig; heute mache ich selber Bücher, ärgere mich über jeden dämlichen Schnick, den ich selber versäge, und es stört mich einfach. Bei den meisten Lesern geht das unbewusst unten durch, es bleibt vielleicht ein unangenehmes Gefühl, das man nicht orten kann. Aber das wirkt sich eben aus.
Ansonsten, wie gesagt, ist das Buch in Ordnung. Wenn man die bewussten Kapitel weglässt und sich aufs Wesentliche konzentriert, hat die Story was. Ich mag solche Positivismen eigentlich nicht, aber Brunner versucht nicht, dem Leser mit aller Gewalt einzureden, dass der Tod toll ist. Immerhin hat er das hingekriegt.
Und das ist doch auch was.
Wenn ich in diesem Zusammenhang von einer Verantwortlichkeit deiner Person gesprochen habe, wollte ich damit eigentlich darauf eingehen, daß das SF- und Fantastik-Programm des Projekte-Verlages wohl dir zu verdanken (!) ist. Dass du nicht für alles und jedes verantwortlich – im Sinne von schuldig :) – bist, sollte eigentlich klar sein.
Und was den Rest angeht: Ich bin Pedant. Meine Kritik an den handwerklichen Aspekten einer Buchproduktion sollte nicht nur, aber auch so interpretiert werden (womit auch gemeint ist: nicht zu schwer in die Waagschale geworfen werden). Immerhin aber bemerke ich in Zeiten, in denen jeder Hansl vor einem Computer hocken, kostenlosen Pseudo-Open-Source-Programmen und Freeware-PDF-Treibern irgendwas buchähnliches zusammenstoppeln und veröffentlichen kann (das ist so wie damals mit den Fanzines alter Machart, nur leider viel zu einfach, mit viel zu wenig Schweiß verbunden), daß das wahre Handwerk verloren geht, daß der, der noch weiß, wie es geht, den Dank für seine – ja, auch: – schöpferische Leistung eines schönen, fehlerfreien oder doch fehlerarmen Layouts nicht mehr bekommt, weil immer weniger Leute überhaupt bewußt wissen, worum es da geht. In Zeiten, in denen im privaten Free-TV wirklich jeder Sch*** begeistert aufgenommen und hochgejubelt wird, geht das Detail des Kleinen und Feinen verloren. Auch wenn dabei bisweilen jemand einen zwischen die Hörner kriegt, bei dem das nicht durchgängig gerechtfertigt sein mag, möchte ich diese Aspekte der Kunst, Bücher zu machen – machen! – nicht unter den Tisch fallen lassen.
Obwohl ich für einige SF-Titel im Verlag verantwortlich bin, habe ich mit diesem nichts zu tun gehabt, sonst hätte ich vielleicht etwas von den bemängelten Dingen verhindern können. Wo ich nicht mitgehe, ist der Ausdruck „gefaked“ bei unserer Hardcover-Bindung. Wir haben da nichts gefälscht, sondern es ist eine doppelt gelumbeckde Klebebindung, ein ganz legitimes und normales Verfahren, das größtenteils in Handarbeit geschieht. Fadenheftung benötigt andere Maschinen und die haben wir einfach nicht. Vielleicht ist sie nicht ganz so haltbar wie letztere, aber da kann man meiner Ansicht nach drüber streiten.