Reizende Genialität

Matthias Falke
HAREY
Books on Demand, Norderstedt, 2008, Taschenbuch, 195 Seiten, ISBN 978 3 8334 9712 4

In der Rezension zu »Das Dyson-Segel« habe ich Matthias Falke böse zugesetzt, könnte man meinen – aber so war es eh nicht gemeint. Und jeder Autor hat mal eine Schwächephase, das ist einfach so und kein Grund, die Hoffnung aufzugeben. Was der Mann wirklich kann, zeigt er ja. Oft genug.

»Harey« ist eine Kurzgeschichtensammlung, die anfänglich »Der Savant« genannt wurde; auf Matthias‘ Website ist nachzulesen, dass es da offensichtlich eine Titelgleichheit mit einem anderen Buch gab, obwohl man bei Amazon zum Beispiel keinen solchen Titel finden kann. Die Sammlung »Harey« enthält sieben Kurzgeschichten aus verschiedenen Bereichen des Fantastischen, wobei ich hier auf die verschiedenen möglichen Facettierungen gar nicht eingehen möchte.
Zu den Geschichten im Einzelnen:

»Der Schirm« (zuerst in »Kosmische Geschäfte«, STORY CENTER 2002, SFCD e.V., 2002, erschienen; erhältlich auch als eBook im Verlag Readersplanet sowie im eMagazin androXine 3) könnte man als Reminiszenz an die Gefahren neuzeitlicher Technik betrachten. Ein Vertreter der Generation, die der rasanten Entwicklung moderner Technik vor allem im informationstechnologischen Bereich reserviert, desinteressiert und uninformiert gegenübersteht, trifft auf … ja, auf was? Ein Opfer? Oder jemanden, der sich die Möglichkeiten zunutze zu machen weiß? – Ich kannte die Geschichte schon, weil ich sie für die Veröffentlichung in androXine 3 bearbeitet hatte, ich habe sie dennoch nochmals gerne gelesen – und war witzigerweise noch einmal über den Gag der Geschichte überrascht; er ist wirklich so gut vorbereitet, dass man in der Tat nicht von selbst darauf käme.
»Die Katze« (zuerst in »Realitäten«, STORY CENTER 2007, SFCD e.V., 2008, erschienen): In der Quantenphysik hat Materie niemals nur einen Zustand, sondern immer zwei, immer »existent« und »nicht existent«, immer »ja« und »nein«, immer »Null« und »Eins«, und erst, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, entscheidet sich ein Zustand – für wie lange auch immer. Die Katze in einer Versuchsanordnung ist »lebendig« und »tot« zur gleichen Zeit, bis die Versuchsanordnung geöffnet wird. Die Welt, wie wir sie (zu) kennen (glauben), existiert – oder nicht. – Ich habe diese Geschichte surrealistisch auf mich wirken lassen und nicht versucht, irgendetwas unter wissenschaftlichen Aspekten zu verstehen. So gefiel mir die Geschichte besser – sie hat etwas an sich, an dem ich meine Fantasie festmachen kann, damit sie ihre Fäden in eine Richtung weiterspinnen kann. In welche? Das entscheidet die Quantenphysik :)
»Der Savant« ist eine Geschichte, die zum Nachschlagen reizt. Die Story selbst erscheint zunächst relativ simpel: Ein menschliches Wesen mit großen geistigen Fähigkeiten leidet unter körperlichen Behinderungen und Krankheiten, wird schließlich zum Cyborg und ergreift die Macht im Staate und versucht es auch mit der Welt. – Was zum Nachschlagen reizt, ist der Titel, denn mir war nicht bekannt, was ein »Savant« ist. Heutzutage hilft ja das Internet, und die Wikipedia ist einmal mehr hilfreich: Ein »Savant« ist ein Inselbegabter. In der Wikipedia ist ausführlich beschrieben, was man darunter zu verstehen hat. Und man lernt u. a. auch, dass der von Dustin Hoffmann in »Rain Man« gespielte Raymond Babbitt nicht nur einfach ein Autist war – wie es in dem Film herauszukommen schien –, sondern solch ein Savant, noch dazu mit einem tatsächlich existierenden Vorbild.
»Harey« ist die Geschichte, mit der Matthias Falke im fantastischen Bereich wohl seinem Bekanntheitsgrad einen erheblichen Schwung verpassen konnte. In der Geschichte, in der eine Gruppe von Wissenschaftlern ein Experiment unternimmt, bei dem versucht wird, einer künstlich geschaffenen Umwelt Autarkie zu verschaffen, in der es also mittelbar und unmittelbar um Realität, deren Schaffung, Aufrechterhaltung und – vor allem – Wahrnehmung geht, spielt die titelgebende Frau Harey nur eine der wichtigen Rollen. – Die Geschichte ist vom wissenschaftlich-philosophischen Standpunkt raus sicherlich reif für eine größere Streitgesprächsrunde, am besten jedoch in einem guten Restaurant bei ebensolch guten Getränken. Sie ist aber als literarisches Werk ganz zu recht Falkes herausragendstes Kurzgeschichtenstück, denn sie ist stimmungsvoll und wortbildlich höchst homogen geschrieben, ein Stück Kurzgeschichtenliteratur, das man kaum mehr als genießen kann, jedoch auch kaum mehr weniger als das. – Im Nachhinein war es so oder so eine gute Entscheidung, dem Sammelband diese Story als Titel zu geben, denn sie ist besser als »Der Savant«. Mit »Harey« wurde Falke übrigens 2009 für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert; beim Deutschen Science-Fiction-Preis 2009 landete er in der Kategorie Kurzgeschichte immerhin auf Platz 3.
»Das Wahrheitsserum« ist eine Geschichte, die man sich fein auch als verfilmtes Werk vorstellen könnte, auch wenn sie dann vermutlich nur einer relativ kleinen Gruppe auserlesenen Fans bleiben dürfte. – Ein bestialisches Verbrechen geschah, die Täter sind gefasst, geständig – jedenfalls weitgehend –, und die Geschichte konzentriert sich darauf, die Gründe, die Motivationen der Gewalttäter nachzuvollziehen, die zu diesem Gewaltverbrechen führten. – Der Film wäre, aus amerikanischer Filmfabrik gebaut, ein schwer splatterlastiges Werk, mit dem mehr oder minder erfolgreichen Versuch, auch die psychologische Ebene der Vorlage mitzutragen. Die Japaner würden daraus ein Werk schaffen, das wir Wessies nicht wirklich verstehen könnten; die Amerikaner würden dann in einem Remake mit hübscheren und vor allem blonden Schauspielern dafür sorgen, dass das daraus entsteht, was sie gleich von vornherein produziert hätten. Und den Deutschen würde es sicherlich gelingen, die allwährende Trauer der deutschen Seele ob der Verbrechen im Dritten Reich, gegenüber den Juden und grundsätzlich unterzubringen. – Die Geschichte, die sich als solche gut liest, schon, weil man die ganze Zeit nicht ganz sicher ist, wo der Weg hinführen wird, ist kein Splatter, nicht im Mindesten. Die Beschreibungen sind klar und eindeutig, das Verbrechen als solches, war nicht spaßig, und das Ergebnis für die Gewalttäter letztlich höchst ärgerlich, und dennoch: Die Geschichte reizte mich beim Lesen vom zweiten Satz an zu Überlegungen über eine Verfilmung, und ich würde eine solche Verfilmung als eine wahre Herausforderung empfinden, wäre ich Regisseur; ich bin ziemlich sicher, dass es niemandem auf dieser Welt gelingen würde, das aus der Geschichte auf die Leinwand zu bringen, das die Geschichte unterbewusst und unbewusst beim Lesenden anrichtet. – Für mich alleine aufgrund dieser Wirkung auf mich die Geschichte No. 2 in diesem Band.
»Im Äther« (zuerst in FANTASY 148, EDFC e.V., 2001, erschienen; in überarbeiteter Form zudem als Episode XIV »Ikarus« im Roman »Die Bibliothek des Holländers«, 2007, enthalten): Anfangs kam mir die Geschichte fast ein wenig bekannt vor. Ein Mensch hat sich entschieden, einen neuen Weg einzuschlagen – indem er nach und nach seine Körperlichkeit aufgibt. Das geht nun nicht so einfach wie bei Perry Rhodan oder in Star Trek, nein, da sind zahllose Operationen und Manipulationen fällig. Am Ende ist nur nichts so, wie der Mensch sich das vorgestellt hatte. Aus seinem geplanten Schöpfungswerk wird ebenso wenig wie aus seinem »Leben« … – Eine Geschichte mit einem Open End, wenn man zwei Mal hinschaut.
»Deus Absconditus« ist eine Geschichte, die man möglicherweise mindestens zwei Mal lesen sollte. Es geht – wenn ich es nach dem ersten Mal richtig verstanden habe – um die Möglichkeiten, Gott so zu beeindrucken, dass dies zur Apokalypse führt. Und um vieles mehr. Um Gott an sich, um seine Rolle im Geiste des Menschen. Um das, was er überhaupt am Menschen findet, wenn er etwas an ihm findet. Und so weiter, und so fort. – Eine eklatant philosophische Geschichte, geschildert anhand einer Diskussionsrunde, mit einer nur wenig durch Beschreibungen unterbrochenen, praktisch aus Dialogen bestehenden Handlung. Manch einem gehen philosophische Geschichten sicherlich auf die Nerven (irgendwem geht immer irgendwas auf die Nerven, wie man weiß), aber die Dialoge sind so gut geschrieben, dass sie den Leser ordentlich und erbaulich durch die Geschichte ziehen, manchmal sogar treiben. Stellenweise erwartet man fast, dass die Diskussionsrunde am Ende die richtige Antwort findet und die Story mit der Apokalypse endet. Aber so einfach geht das wohl nicht … – Die Geschichte hat mich witzigerweise an die ganz unfantastischen Filme »Before Sunrise« und »Before Sunset« mit Ethan Hawke und Julie Delpy erinnert.

Wie gesagt, in der Rezension zu »Das Dyson-Segel« habe ich Matthias Falke übel mitgespielt. Allerdings steht für mich nach wie vor fest, dass diese Geschichte nicht gut genug war, die technischen Ärgerlichkeiten des Buches zu überwinden. Die Technik – Korrektorat, Lektorat, Layout – bei »Harey« erfüllt die gleichen Kriterien wie »Das Dyson-Segel«, aber hier, in »Harey«, sind die Geschichten so genial und so ohne jeden Zweifel auch aus der Menge der Kurzgeschichten anderer Autoren in Deutschland herausragend, dass es leicht fällt, die technischen Unzulänglichkeiten des Buches hintanzustellen. Nicht, dass Falke an der Präsentation seiner Werke nicht unbedingt arbeiten sollte. Aber die Sammlung »Harey« zeigt in einer schönen Bandbreite fantastischer Literatur, was in dem Mann drin steckt.
Eine kurzweilige, absolut empfehlenswerte Lektüre.

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