Dreibeinige Weltenbetrachtung

Matthias Falke
TRINAKRIA
Books on Demand, Norderstedt, 2011, Taschenbuch, 120 Seiten, ISBN 978 3 8423 0010 1

VORBEMERKUNG
»Trinakria« ist die Bezeichnung für dieses Symbol:

Und ein alter Name für Sizilien.

WORUM GEHT ES?
Matthias Falke war zwei Mal, 2004 und 2006, auf Sizilien, der Insel des Löwen, Trinakria. Das Buch enthält seine Reiseaufzeichnungen, gehalten in der Art eines Reisetagebuchs.

WIE IST DER STIL?
Ein typischer Falke. Teilweise telegrammartig, dann in umfangreiche und für ihn typische, manchmal etwas gestelzt wirkende, mit für ihn typischen, aber im deutschen Sprachgebrauch seltenen Fremdworten durchsetzte Sätze und Absätze ausfließend.

WAS GEFIEL NICHT?
Die wenigen, aber störenden Tippfehler, die üblichen Mankos im Layout (fehlende Silbentrennung vor allem).

WAS GEFIEL?
Der Stil. Das ist genau die Art von Buch, die ich mir z. B. für die Reihe »ErlebnisWelten« meines eigenen Verlages vorstelle. Das ist genau die Art von Buch über Reisen und fremde Länder, die ich selbst gerne lese. (Und zugegebenermaßen auch selbst gerne schreibe, wenn ich dazu komme.) Neben zahlreichen Orten und ihren Beschreibungen gibt es auch viel Philosophisches, Nachdenkliches. Nicht jeder mag Falkes Stil mögen, möglicherweise (naja, jeder hat einen anderen Geschmack), und auch ich tue mich manchmal schwer, bei manch einem seiner Werke. Aber in diesem Fall passt der Stil wie die Faust aufs Auge.

EIN PAAR ZITATE GEFÄLLIG?

Zur Remontierung gehört auch die Umstellung des Lebensrhythmus’. Ab dem dritten, vierten Tag stehen wir zeitig auf und sind stets die ersten beim Frühstück. Außer einem kleinen Glas Wein zum Abendessen, um den Geschmack aufzuschließen, enthalte ich mich des Alkohols. Keine Musik, kein TV, obwohl wir ein Gerät auf dem Zimmer hätten, dafür viel Schlaf, viel Sonne, frische Luft und Bewegung. Nach und nach fallen Gewichte von einem ab, das Leben wird leicht, frei, heiter. Die Sinne werden geschärft. Der Geist legt alles Grüblerische ab, er wird offen. Ich kann stundenlang dasitzen und aufs Meer hinausschauen, nicht einmal zur Lektüre spüre ich einen Antrieb. Andrea: »Was denkst du?« Ich: »Nichts.« Und das ist die Wahrheit. Ich nehme nur auf, schaue den Wellen zu, deren Unermüdlichkeit mich fasziniert, seit ich im Mai 1990 an der korsischen Westküste begriff, daß sie älter sind als ich und mich trotzdem überleben werden. Nicht einmal Aufzeichnungen. Andrea ermahnt mich irgendwann, doch ein Journal zu führen. Daheim eine Unverzichtbarkeit; hier notiere ich lustlos ein paar Stichworte. Die Fülle der Bilder und Erlebnisse steht in umgekehrtem Verhältnis zu dem Bedürfnis, sie festzuhalten. Sie scheinen sich selbst zu genügen, so wie ich beim zeitvergessenen Starren in die Brandung mir selbst genüge. Wenn man immer hier lebte, wäre der Geist irgendwann so ruhig, daß er sich große Werke zutrauen würde ohne den Krampf und die Anspannung, die im Norden dazu nötig sind; und doch würde man keine einzige Zeile schreiben. Wenn man bedenkt, daß diese Gegend Kunst hervorgebracht hat wie kaum eine zweite auf der Welt, wird es noch viel paradoxer. Daß man in unseren Nebelbreiten dicke Romane, Wagneropern und schwermütige Metaphysik braucht, um über die achtmonatigen Winter zu kommen, leuchtet ein, aber warum sollte man sich hier die schönen Aussichten mit derlei Unfug verbauen?
(Seite 14 f.)

Insgesamt sind die Touristenströme eher deprimierend, was nicht allein an ihrer alles überflutenden, dabei sonderbar desorientierten und desinteressierten Masse liegt. Die Nationen Europas schicken ihre Rentner und Gehbehinderten, auf daß sie auf Krücken, von allerlei Prothesen abhängig, auf den Trümmern energischerer Zeitalter herumhumpeln und -kriechen. Immer wieder das Gefühl: wir sind weniger Spätlinge einer überkommenen Kultur — das waren bereits die Römer —, als vielmehr Außerirdische, die auf den Relikten fremdartiger und unbegreiflicher Zivilisationen herumstapfen. Dann überfällt mich wieder Ekel gegenüber solcher Klügelei. Taedium vitae, taedium sapientiae.
(Seite 20)

Tempus fugit. Die Zeit rast. Noch auf keiner Reise hatten die Tage eine solche Flucht. Der Vergang ist reißender als während des Alltags, obwohl doch sonst die Tage auswärts ein größeres Eigengewicht zu haben pflegen, anfangs zumindest. Unvermittelt, nachdem wir ohnehin kaum in den Tag hinein gelebt haben, geraten wir schon wieder in den Rhythmus der Wochen; wenn wir auch nicht deren drei zu sieben Jahren dehnen können. Wir möchten die Zeit anhalten, die Flucht der Tage stoppen, uns in jede einzelne Stunde verbeißen wie die Mosaik-Löwen in Piazza Armerina sich in die steinernen Gazellen verbeißen und sie festhalten, seit Jahrtausenden schon. Aber es gibt keinen festen Punkt, im Raum nicht und nicht in der Zeit. Der Traum des Archimedes von Syracus bleibt unerfüllt. Und so geht es uns selbst wie der körnigen Gazelle: wir werden geschlagen und davon gerissen.
(Seite 42)

Am Flughafen chaotische Verhältnisse. Irgendwo schrillt mehrere Stunden lang eine Alarmanlage, die niemand auszuschalten unternimmt. Wir fliegen mit Verspätung ab, da die Maschine bereits verspätet aus Frankfurt kam. Dort verpassen wir dementsprechend unseren Zug. Der nächste, zwei Stunden später, hat 25 Minuten Verspätung. Wir haben also genug Zeit, in der einzigen geöffneten Bar etwas trinken zu gehen und uns für teures Geld von einem erstaunlich pampigen Kellner bedienen zu lassen. Als unser Zug dann kommt, tuckert er, obwohl als ICE ausgewiesen, im Schritttempo über die Dörfer. Ein Ehrgeiz, die Verspätung einzuholen, ist nicht festzustellen. Gut, daß wir mit einem Rail & Fly-Ticket fahren und nicht auch noch den »Expreß«-Zuschlag zahlen müssen. Andrea rollt sich in ihrem Sitz zusammen und schläft. Es ist mittlerweile drei Uhr morgens. Die Schaffnerin, einen norddeutsche Teutonin, betritt das Abteil, knipst mein Ticket ab und brüllt dann zu Andrea hinüber: »Guten Morgen, die Fahrscheine!« Als ich sie darauf hinweise, daß wir zusammengehören und sie das Ticket schon gesehen hat, keine Entschuldigung, sondern noch ein pampiges Nachkarten, das könne sie ja nicht wissen. Die Fahrt von Frankfurt nach Karlsruhe dauert zwei Stunden. Dort noch mit einem muffligen Taxifahrer nach Hause, der uns erst eine Weile auf der Straße stehen läßt, ehe er sich bequemt, den Kofferraum aufzumachen und uns unsere Koffer herauszulüpfen.
In Sizilien hat zwei Wochen lang alles reibungslos funktioniert, alle Busse, Fähren, Seilbahnen waren pünktlich, und wir sind keinem einzigen unfreundlichen oder schlecht gelaunten Menschen begegnet. Mehr denn je fragen wir uns, warum wir überhaupt wiederkommen.
Achja, das Wetter: diesig, regnerisch, 7°C. Wellcome home!

(Seite 50 f.)

Weiter zum Dom, der in normannischer Zeit auf den Ruinen einer Moschee errichtet wurde. Von außen präsentiert er sich als maurische Festung mit gewaltigen zinnengekrönten Wällen und mächtigen Wehrtürmen. Man betritt ihn durch ein abstechend leichtes frühgotisches Seitenportal. Im Inneren dann die Ernüchterung: hier zeigt sich der kühle Klassizismus der letzten Umbauphase, Ende des 18. Jahrhunderts. Darüber empören sich bis heute die Denkmalpfleger und Kunsthistoriker. Sie führen ihren eigenen historischen Sinn ad absurdum. Kultbauten sind eben keine Museen, sondern Architektur ist selbst lebender Kultus. Daß die »Stile« dabei im Rhythmus der Jahrhunderte schwingen und sich überformen, ist seitens der Religion ganz äußerlich. Jede Zeit bedient sich des Formenschatzes, der ihr zur Verfügung steht, von gotischen Bögen und Renaissance-Kuppeln bis den Lautsprechern und Mikrophonen, die heute in keiner Kirche fehlen. Welchen Stand, müßte man umgekehrt fragen, sollte man als den ein für allemal Gültigen konservieren: den eklektischen Stilmischmasch. von 1200? Warum sollte man nicht die Moschee rekonstruieren, die hier während der Araberherrschaft stand. Oder den heidnischen Kultbau, den es sicherlich auch schon einmal gegeben hat. Die Stätten sind heilig, die Kulte, die darauf zelebriert werden, lösen einander ab. Das gilt schon für die Religionen selbst, erst recht für die Epochen innerhalb einer Kultur. Auch der Historismus ist nur eine Begleiterscheinung der unseren. Er wird mit ihr verschwinden. Selbstbewußtere Zeitalter werden nicht zögern, das Ihre an die Stelle des Überkommenen zu setzen. Der Stein, wie mächtig er sich auch erhebt, wird flüssig. Er blüht auf, bringt Früchte hervor und verdorrt endlich wieder. Gebirge und Kontinente fließen in unserer Weltvorstellung. Kunstwerke sind Kristallisationen, die die Zeit — für eine Weile — überwinden durch Form. Aber wo ganze Erdteile in den Magmamantel sinken und umgeschmolzen werden, sprühen auch die in ihnen eingeschlossenen Drusen zu Feuerwerken des Vergangs auf. In 20 oder in 2000 Jahren erscheint der Neue Gott; dann wird man auch den Petersdom abreißen, um einen neuen Tempel zu errichten — an derselben Stelle.
(Seite 62 f.)

Früh auf. Um sieben sind wir die ersten beim Frühstück; das Buffet wird gerade aufgebaut. Wir sitzen als einzige auf der großen Terrasse. Das Meer räkelt sich noch schlaftrunken in der Morgensonne, dehnt die Muskeln und blinzelt mit den Augen. Nur die Frischluft Junkies (!) machen schon rhythmische Sportgymnastik. Wie immer, wenn man sich etwas aufs Draußensein zugute hält, kann man die stillen Geräusche der Natur nicht ertragen, sondern muß sich und die Zeitgenossen mit Techno-Klängen beschallen.
(Seite 81)

Abends an der Mole in Cefalù. Zwei Brautpaare und ihre Fotografen. Aber seltsam; sie stehen immer im Schatten der Mole oder im harten Gegenlicht, ohne Aufheller für die Gesichter. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Bilder etwas werden; dem Fotografen in mir blutet das Herz. Was gäben wir nördlich der Alpen für solches Licht!
(Seite 110)

(Anm.: In den Zitaten habe ich nur die Anführungszeichen gegenüber dem Original geändert. Rechtschreibung, sogar Tippfehler sind aus dem Original.)

ZU EMPFEHLEN?
Ja.

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