Tom Hillenbrand
DROHNENLAND
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2014, Taschenbuch, 423 Seiten, ISBN 978 3 462 04662 5
VORBEMERKUNG
Das Werk ist als Kriminalroman eingestuft. Nirgendwo findet sich ein Hinweis auf SF, SciFi, Science-Fiction. Es ist nur ein Kriminalroman.
Wirklich nur?
WORUM GEHT ES?
In dem geschilderten Europa der Zukunft, nein, eigentlich der ganzen Welt der Zukunft sind Drohnen allgegenwärtig. Sie beobachten alles, sie zeichnen alles auf, abhängig davon, was wo passiert – wo viel passiert, ist die Aufzeichnungsdichte höher als dort, wo nichts geschieht. Und es sind nicht nur die Aufzeichnungen der Drohnen, die gegenüber unserer heutigen Welt zugenommen haben – auch die Auswertungsmöglichkeiten sind immens umfangreicher, als wir sie kennen.
Kommissar Westerhuizen, die Hauptfigur, gehört zu EUROPOL und soll den Mord an einem EU-Parlamentarier aufklären. Er hofft auf eine schnelle Aufklärung, muss aber feststellen, dass es trotz all der Überwachung und der Digitalforensik genannten Auswertungsmöglichkeiten fast keine Indizien, fast keine Spuren gibt. »Und Westerhuizen kommt einem Geheimnis auf die Spur, das Europa in seinen Grundfesten zu erschüttern droht.« (O-Ton Sascha Lobo auf der Buchrückseite)
Mehr will ich nicht verraten. Mehr kann ich eigentlich auch nicht verraten. Denn die Einstufung als Kriminalroman ist definitiv nicht falsch – ganz im Gegenteil. »Drohnenland« ist ein Krimi reinsten Wassers – aber eben nicht nur.
WAS GEFIEL?
Drei Dinge sind es, die mir gefallen haben:
Der Krimi-Plot. – Ich bin bekennender Krimifan, mehr noch, als ich SF-Fan bin. Der Krimi, den Hillenbrand hier vorgelegt hat, hat alles, was so eine Geschichte braucht: Fähige Polizisten, böse Gegenspieler, Action, Thriller, ein wenig Mystery (wenn auch hier sehr technisch), eine saubere, haken- und ösenfreie Spannungskurve, die nicht beweisbar, aber doch immer irgendwie erkennbar auf ein gutes Krimiende hinsteuert.
Hillenbrand dürfte Humphrey-Bogart-Fan sein, was in dem Text auch immer wieder nicht nur durchscheint, sondern ausdrücklich erwähnt wird. Und nicht nur das: die sehr entspannt wirkende, fast lapidare Schreibe lässt im Kopf des Lesers Bogart-Filmbilder entstehen, eine Stimmung, die zu »Casablanca« und anderen Bogart-Streifen ebenso passt, wie sie zu den großen Filmen der Film-Noir-Ära zu gehören scheint. Hillenbrands Werk ist nicht so düster, wie diese Film-Noir-Werke es oft waren, aber die Anklänge sind so offensichtlich, dass man sich fast wohlig in dieser Färbung der Geschichte rekeln kann. Die Gänsehaut erzeugt Hillenbrand hier nicht nur mit Action und Thrill, sondern einfach auch mit diesen oft nur winzigen, aber immer wieder spürbaren Reminiszenzen an eine ganz, ganz große Zeit der Krimis und Thriller.
Das SF-Setting. – Hillenbrands SF ist ein Hintergrund. SF ist das Setting, vor dem der Krimi spielt, und es ist ein mehr als gelungenes Setting: inhaltlich und stilistisch.
Inhaltlich entwickelt er ein Europa und eine Welt, die sich einerseits erkennbar von unserem Europa und unserer Welt unterscheidet, aber sehr viele, wenn nicht gar praktisch alle Extrapolationen unserer heutigen Welt in die Zukunft darbietet. Es ist gleichgültig, ob es sich um die Weiterentwicklung des Islamistenproblems handelt, um die Konflikte zwischen EU und Großbritannien, um die Entwicklung der Eurowährung usw. usf., es ist alles da, was der Leser braucht, um sich das Europa der hillenbrandschen Zukunft lebhaft, ja, plastisch vorstellen zu können. Es fehlt wirklich nichts.
Und das eigentlich Beeindruckende ist, dass Hillenbrand keinerlei Seiten oder auch nur Sätze damit verschwendet, die Zukunft nur zu beschreiben. Wenn es überhaupt etwas gibt, das einer Beschreibung nahekommt, dann sind das Gesprächsinhalte zwischen Westerhuizen und seiner Assistentin Ava, oder zwischen den beiden und Terry (aka TEREISIAS), der gigantischen KI, die die zeitnahe Auswertung all der Drohnenaufzeichnungen überhaupt erst möglich macht. Im Übrigen wirft Hillenbrand selbst die wichtigsten Informationen einfach so nebenbei hin, ohne dass man sich als Leser irgendwie schlecht informiert fühlte – eher noch im Gegenteil. Hillenbrand gelingt es, die Inflation, die der Euro erlebt hat, in zwei, drei kurzen Nebenbeisätzen abzuarbeiten, in denen er erwähnt, dass ein Cappuccino mehrere Hundert Euro kostet. Und das immer wieder, ganz entspannt, fast lapidar, wie gesagt. Und trotzdem – und genau das hat mich an diesem SF-Plot am allermeisten erfreut – fehlt dem Leser nichts. Der SF-Hintergrund der Geschichte hat kein Loch, keine Lücke, keinen Kratzer, er ist schön, dicht, gut gestaltet, vor allem auch gut durchdacht, sehr naheliegend aus heutiger Sicht, folgerichtig, könnte man sagen. Fast schon hellseherisch (aber auch Sascha Lobo sagt im Text auf der Buchrückseite, dass Hillenbrand einfach jemand ist, »der die Zukunft versteht, bevor sie passiert«.
Die Kombination aus Krimi und SF. – Dazu muss ich eigentlich nicht mehr viel sagen. Eine knackige Krimigeschichte vor einem gut durchdachten, gut gestalteten, quasi sauberen Hintergrund, das kann nur passen, das kann nur schön sein, das kann eigentlich nur gefallen. Hillenbrand hat mir persönlich hier ein Werk vorgelegt, dass die Dinge vereint, die ich liebe – Krimi – und die ich mag – SF –, und das auf eine Art und Weise, die schwer zu toppen scheint. (Ich gebe allerdings zu, dass ich mir andere Hillenbrand-Werke anschauen werde, ganz ohne Zweifel.)
WAS GEFIEL NICHT?
Nichts. Bei guten Büchern, die mich begeistern, sage ich gerne oft, dass mir das frühe Ende, der geringe Umfang usw. nicht gefallen hat. Aber auch wenn ich gerne noch mehr gelesen hätte, »Drohnenland« ist eine gute, eine vollständig runde Sache, die genau die richtige Länge, genau den richtigen Umfang hat. Fünf Seiten weniger, fünf Seiten mehr – das hätte nicht viel geändert, denke ich. Das Buch ist, wie es vorliegt, etwas, das man sich schwer vorstellen kann: fast perfekt.
ZU EMPFEHLEN?
Aber hallo – wenn nicht »Drohnenland«, was dann? Krimifans ohne mentalen SF-Zugang kommen hier genau so auf ihre Kosten, wie SF-Fans ohne Gespür für Krimis. Von denjenigen, die beide Leidenschaften ihr eigen nennen, will ich gar nicht schreiben. »Drohnenland« ist ein Mehrwertbuch, und auch, wenn es schade ist, dass der SF-Gehalt durch die Verlagsentscheidung, einen reinen Krimi daraus zu machen, hinten runter fällt, das Werk vereint die Vorlieben zweier Genrefangruppen miteinander, und das – noch einmal: – ganz entspannt, fast lapidar.
NOCH WAS?
Ich habe das Buch für den DSFP 2015 gelesen, und das gute Stück wird von mir die Höchstpunktzahl im Bereich »Bester Roman« bekommen.