Herr Hütter und der Fußball

Das Wetter war leidlich. Trübe, kalt, feucht, ein wenig regnerisch, ein bisschen windig. Herr Hütter wusste schönes Wetter auch zu schätzen. Aber selbst das schlechte Wetter hatte seine Vorteile. Die Wahrscheinlichkeit, Hunden mit Herrchen, mit Frauchen oder beidem zu begegnen, wo der Hund den intelligentesten, leider aber auch instinktgesteuertsten Teil der Paarung darstellte, war deutlich geringer. Menschen, die ihren Hund nicht im Griff hatten, so nahm Herr Hütter an, hatten auch ein Problem mit der eigenen Disziplin.
Solche Probleme hatte Herr Hütter nicht. Oder wenigstens weniger. Jedenfalls ging er auch bei trübem, kaltem, feuchtem, regnerischem und windigem Wetter mit seiner Hündin spazieren. Die Wege am See gaben immer eine gute Gelegenheit her.
Der Weg am See entlang, Richtung Kirche, dort dann den Berg hinauf, Richtung Bahnhof und wieder hinunter zum See, das war eine seiner regelmäßigen Touren mit seiner Hündin. Vor allem, wenn die Waldwege eher matschig waren, weil es geregnet hatte. Eine Stunde etwa. Direkt am See lagen lauter kleine Seegrundstücke, deutsch-peinlich abgezäunt, versperrt, mit Verbotsschildern aller Art bestückt. Der Ort war sowieso ein Versuchsgelände für Verbotsschilderhersteller.
Bei schlechtem Wetter ging dort so gut wie niemand, gleich ob mit oder ohne Hund. Aber nicht immer …

Die beiden Burschen waren vielleicht sechs, sieben Jahre alt. Herr Hütter war schlecht im Schätzen. Vor allem bei Kindern, bei denen es ihm eh egal war, wie alt sie sein mochten. Alles unter achtzehn Jahren ignorierte er mit einer gewissen Leidenschaft. Und selbst darüber hinaus …
Die beiden Burschen kamen aus einer Seitenstraße. Sie schossen einen weißen Lederball zwischen sich hin und her. Sie hängten sich hinter Herrn Hütter und seine Hündin und folgten den beiden. Seine Hündin begann sofort, nervös zu werden. Das Geräusch des ständig irgendwo anprallenden Balles irritierte sie. Dazu die lärmenden Geräusche der beiden Kinder. Herr Hütter hatte kein grundsätzliches Problem damit, dass Kinder Lärm machten. Das gehörte eben zum Erwachsenwerden. Immerhin würde jedes Kind, das mit sechs, acht, zwölf Jahren lärmte, irgendwann selbst erleben, was es bedeutete. Mit eigenen Kindern, mit anderen, mit welchen auch immer.
Aber Herr Hütter mochte es nicht, wenn seine Hündin irritiert war. Oder gar Angst hatte. Und er mochte es nicht, wenn irgendjemand – und dazu gehörten für ihn auch Kinder – keine Rücksicht nahm. Vor allem auf seine Hündin.
Er beschleunigte seine Schritte nicht, um den lärmenden Fußballspielern zu entkommen. Die beiden schränkten ihr Tun auch nicht ein. Sie riefen sich gegenseitig Dinge zu, die Herr Hütter nicht verstand, weil sie ihn nicht interessierten. Sie kickten den weißen Fußball quer über die asphaltierte Straße.
Ein Auto kam und der eine Bursche nahm den Ball auf. Als der Wagen vorbeigefahren war, kickte er den Ball zu seinem Kumpan hinüber, und das Spiel setzte sich fort.
Seine Hündin schnüffelte, immer noch nervös. Aber sie schnüffelte. Herr Hütter gönnte ihr das. Das war ein Teil ihres Vergnügens an ihren gemeinsamen Spaziergängen. Dass er das Vergnügen daran nicht nachvollziehen konnte, war nicht relevant. Seine Hündin wusste auch nicht, was er an seiner Zeitungslektüre fand.
Der Ball knallte keine zwei Meter hinter Herrn Hütter gegen die Wand eines Restaurants, das nur im Frühjahr und Sommer geöffnet war. Jetzt war es geschlossen. Am Straßenrand stand ein Auto, dessen rechter Blinker blinkte. Warum auch immer.
Der Ball prallte von der Wand ab, knallte gegen den Wagen, prallte erneut ab und landete wenige Schritte von Herrn Hütters Hündin in einem Grasdreieck. Die Hündin zuckte kurz zusammen. Ihr Schwanz senkte sich nach unten, zwischen die Hinterläufe.
Herr Hütter wusste Bescheid. Er machte einige Schritte, zog seine Hündin hinter sich her. Die Burschen fanden es möglicherweise interessant. Jedenfalls hatte Herr Hütter den Eindruck, sie würden sich nun bemühen, mit dem Ball noch näher an die nervöse Hündin zu gelangen. Mehrmals schoss der eine der Burschen den Ball gegen die Wand des flachen Restaurantgebäudes.
»Könnt ihr das lassen?«, raunzte Herr Hütter, als er sich umdrehte.
Der eine der Burschen, der kleinere von beiden, grinste gehässig. Er schubste den Ball seinem Kumpel hinüber, der das Leder erneut gegen die Wand trat.
»Bitte?!«, sagte Herr Hütter.
»Wieso denn?«, fragte der Größere. »Wir machen doch nichts.«
»Ihr stört den Hund.«
»Na und?«, fragte der Kleinere. »Soll er doch woanders hingehen.«
Herr Hütter blieb stehen und drehte sich vollständig um.
»Ich warne euch …«, sagte er.
Der Größere nahm den Ball auf. Sein Gesichtsausdruck war nicht ganz so selbstsicher wie der seines kleineren Freundes.
»Und dann?«, fragte der frech.
»Setzt’s was«, antwortete Herr Hütter.
»Das darfst du gar nicht«, antwortete der kleinere Bursche.
Herr Hütter drehte sich um und gab seiner Hündin zu verstehen, dass es weiter ging.
Nach ein paar Schritten nahmen die Burschen ihr Fußballspielchen wieder auf. Inzwischen hatten sie alle das Restaurantgebäude hinter sich gelassen. Linkerhand gab es jetzt nur noch Lattenzäune und ähnliche Absperrungen, aber statt der Häuserwand musste nun der Bordstein dafür herhalten, die Hündin nervös zu machen.
Die beiden Buben näherten sich Herrn Hütter und seiner Hündin mehr und mehr. Gezielt. Absichtlich ging er nicht schneller, was er hätte tun können. Aber er hatte eine Entscheidung getroffen. Herr Hütter fackelte selten lange.
Dann flog der Ball eine Handbreit am Hinterteil seiner Hündin vorbei. Die zuckte zusammen, sprang zur Seite, auf die Fahrbahn. Herr Hütter wusste, dass er sie nicht hätte retten können, wäre in diesem Augenblick ein Auto gekommen. Das gab den Ausschlag.
Herr Hütter ließ die Hundeleine fallen und gab seiner Hündin zu verstehen, dass sie sitzen bleiben sollte. Was sie auch tat. Er schnappte sich den Ball, der nur einen Schritt neben ihm auf einem Stückchen Wiese lag. Die beiden Burschen sahen ihn an. Der Größere war unschlüssig, ganz offensichtlich irritiert. Der Kleinere wusste nicht, ob er gleich frech werden sollte oder ob er sich erst eine Überraschung gönnen sollte.
Herr Hütter nahm den Ball, warf ihn einen guten Meter in die Luft und trat zu. Das Ei flog in hohem Bogen in die Richtung, aus der sie alle gekommen waren. Es landete schließlich auf einer Wiese, die frei zugänglich war. Aber es waren leicht sechzig Meter, die der Ball geflogen war. Herr Hütter war kein Sportler, schon gar kein Fußballer. Mehr hatte er nicht hinbekommen. Aber das musste reichen.
Er nahm die Hundeleine auf und signalisierte seiner Hündin, dass es nun wirklich weiter ging.
»Und jetzt schleicht’s eich, ihr Drecksschrazn!«, raunzte er noch, bevor er davon ging.

Höchstens fünf Minuten waren vergangen, da waren die beiden Mistkerle wieder da. Das Spielchen war das gleiche. Immer schön den Ball kicken. Immer schön die Bordkante treffen, damit es ein lautes Geräusch gab. Immer näher heran an den Mann und seine Hündin, die sich so hübsch erschreckte. Immer –
»Ich hab euch gewarnt!«, sagte Herr Hütter, als er sich kurz umdrehte.
»Egal«, sagte der Kleinere. Dann kickte er den Ball gezielt in Richtung der Hündin. Die sprang schon vorsorglich zur Seite.
Herr Hütter trat zu. Nein, er trat nicht in Richtung der Jungen. Er trat auch nicht so, dass der Ball davon flog. Er setzte den Fuß auf den heranrollenden Ball, um ihn zu stoppen.
Herr Hütter ließ die Leine erneut fallen. Seine Hündin wusste Bescheid.
»Ich hab euch gewarnt!«, sagte er wieder.
Dann griff er in die Innentasche seines Mantels und holte ein Messer hervor. Es handelt sich um eines der eigentlich verbotenen Schmetterlingsmesser, mit einer langen Klinge versehen. Er machte eine simple, aber komplex wirkende Handbewegung. Dann ging er in die Hocke, fixierte mit der linken Hand den Fußball und stach mit der rechten Hand und dem in ihr befindlichen Messer zu.
Einmal, zweimal. Vielleicht dreimal.
Der Ball verlor sofort seine Form. Herr Hütter quetschte ihn zusammen, nahm ihn auf, erhob sich aus der Hocke und warf den Ball gezielt Richtung der Jungen. Er traf den Größeren an der Schulter. Der zuckte nur zusammen, sagte aber nichts.
Herr Hütter hatte einen Gedanken im Kopf, sprach ihn aber nicht aus. Er wusste, dass sein Plan noch ein paar weitere Etappen beinhaltete.
Herr Hütter nahm die Leine auf und ging weiter. Mit seiner Hündin. Die Jungen blieben hinter ihm zurück, offensichtlich unschlüssig, was sie nun tun sollten. Herr Hütter sah sich nicht um, aber er ahnte, dass das Messer sie beeindruckt hatte.
Und doch hatten sie offensichtlich noch nicht genug. Jeder Junge in deren Alter hatte schon mal die Erfahrung gemacht, dass sein Ball die Luft verloren hatte, und ebenso die Erfahrung, dass man auch mit einer luftlosen Pille Fußball spielen konnte. Nicht so elegant, nicht so komfortabel, aber –
Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie wieder hinter Herrn Hütter und seiner Hündin waren. Gleiches Spiel, gleiche Absicht.
Als der schlappe Ball seine Hündin am Hinterteil traf und sie aufjaulte, reichte es Herrn Hütter.
Gleiches Spiel, gleiche Absicht: Er ließ die Leine fallen, in der Gewissheit, dass die Konditionierung seiner Hündin stärker war als ihre Angst. Immerhin hatte er sie konditioniert.
Gleiches Spiel, gleiche Absicht: Er nahm den Ball, zog das Messer, machte die Handbewegung und bewies mit zwei, drei glatten Schnitten, wie scharf das Messer war. Nach den zwei, drei glatten Schnitten bestand der Ball aus zwei, drei Teilen.
Herr Hütter nahm den einen Teil und warf ihn über einen Zaun auf eines der Seegrundstücke. Den anderen warf über auf der anderen Straßenseite über eine Hecke. Mit dem dritten Teil ging er auf den kleineren der beiden Burschen zu, lächelte nett und reichte ihm den Lederfetzen.
»Jetzt könnt ihr weiterspielen«, sagte Herr Hütter.
»Der Ball ist kaputt«, sagte der Kleinere klug.
»Ach«, machte Herr Hütter.
»Du schuldest mir einen Ball«, nölte der kleine Bursche.
»Ich schulde dir allenfalls einen auf die Fresse«, antwortete Herr Hütter.
»Das darfst …«, begann der Kleinere.
»Fick dich!«, sagte Herr Hütter.

Was seine Hündin wenige Minuten und Meter später traf, war ein Stein. Und nicht einmal ein kleiner. Inzwischen jaulte sie nicht einmal mehr auf, und inzwischen arbeitete in Herrn Hütter ein Dampfkraftwerk an der größten Adrenalinproduktion innerhalb kürzestmöglicher Zeit der letzten hundert Jahre.
Gleich darauf flog ein zweiter Stein am Kopf der Hündin vorbei. Ein dritter traf Herrn Hütter an der Schulter, ein vierter die Hündin wiederum am Hinterteil.
Diesmal war sich Herr Hütter nicht so sicher, wie seine Hündin reagieren würde, weshalb er die Handschlaufe der Leine über die Spitze einer Zaunlatte hängte, damit sie nicht einfach davonlaufen würde. Vor allem nicht einfach auf die Straße.
Dann drehte er sich um, machte drei, vier lange Schritte. Die beiden Jungen drehten sich um und wollten davonlaufen, aber Herr Hütter erwischte den Kleineren an der Kapuze seines Anoraks. Mit einem Ruck riss er den Jungen zurück, sodass der rücklings auf den Fußweg fiel. Herr Hütter beugte sich hinunter und griff sich den Jungen am Kragen seines Anoraks. Das Kind wog … Herr Hütter wusste es nicht, es war auch egal. In dieser Situation, vollgepumpt mit Adrenalin bis unter die Haarwurzeln, hätte er Bäume gestemmt.
»Was hatte ich gesagt?«, fragte er mit lauerndem Blick und zischender Stimme.
»Ähm …«, antwortete der Junge.
»Was?«
»Ich …«
»Ich hatte euch gewarnt«, sagte Herr Hütter. »Richtig?«
»Hgn …«, machte der Junge, den Herr Hütter am Schlafittchen hatte. Der Größere stand, derweil einige Schritte entfernt, und wusste offensichtlich nicht, was er tun sollte.
»Das da …«, Herr Hütter deutete auf seine Hündin, »… ist ein Hund, ein Lebewesen, mein Hund, mein Lebewesen. Wer diesem Hund, diesem Lebewesen zu nahe kommt, spielt mit vielen Dingen. Seinem Leben, seiner Gesundheit, seinem Glück, seiner Zufriedenheit. Verstehst du das?«
Der Kleinere glotzte ihn mit großen Augen an.
»Verstehst du das, Scheißerchen?!«, ranzte Herr Hütter ihn an.
Der Kleinere nickte.
»Den Eindruck habe ich allerdings nicht«, antwortete Herr Hütter. Er griff sich die beiden Kordeln der Kapuze des Anoraks, den der Junge trug. Er zog daran, bis sich die Kapuze stramm um den Hals des Jungen schloss. Dann packte er den Jungen mit einer Hand an seinem Anorak und hob ihn hoch. Er hängte ihn mit der Kapuze an einem der Zäune auf der Seeseite auf.
Der Junge röchelte ein wenig. Aber das war Herr Hütter egal. Er griff in die Tasche seines Mantels, zog einen Lederhandschuh heraus und zog ihn über die rechte Hand. Dann drosch er die behandschuhte Faust mit aller Gewalt direkt auf das Maul des Jungen. Er hörte Zähne splittern, vielleicht sogar den Kiefer brechen. Er sah sofort Blut hervorschießen und er hörte den Aufschrei des Jungen. Der Größere der beiden prallte zurück und überlegte vermutlich, wegzulaufen. Aber er blieb doch stehen.
»Wenn du dich meiner Hündin noch einmal näherst«, zischte Herr Hütter, »töte ich dich.«
Der Kleinere jammerte und wimmerte vor sich hin. Seine Augen waren weit aufgerissen und angsterfüllt.
Lauter, damit auch der andere Junge es verstand, sagte er: »Wenn ich erfahre, dass ihr auch nur irgendetwas unternehmt, um irgendeinen Hund zu quälen, in seinem Leben zu stören, zu irritieren, ihn in Angst zu versetzen, egal was … Wenn ich erfahre, dass ihr auch nur daran denkt, einen Hund streicheln zu wollen, finde ich euch.«
Der Größere ging in die Knie. Der Kleinere wimmerte immer noch.
»Und dann schlachte ich euch ab!«, sagte Herr Hütter noch.
Dann drehte er sich um und ging mit seiner Hündin davon.

Daheim gab er seiner Hündin ihr Leckerli und erfreute sich an ihrer Freude. Er sah ihr zu, wie sie das gute Stück getrockneten Pansens verdrückte. Wie sie dann zum Wassernapf ging, Wasser aufschlabberte und ihn dann ansah, als wollte sie fragen: »Gibt’s noch einen Nachtisch?« Und er dachte an das Video von dem Hund, der zehn Jahre lang an einer Kette verwahrlosen musste. Und nur dank mutiger Retter, die ihn stahlen, noch achtzehn Monate etwas erleben durfte, das man als Leben bezeichnen durfte.
Und Herr Hütter dachte nach. Darüber, ob er richtig gehandelt hatte. Und er erkannte einmal mehr, dass er einen Fehler begangen hatte.
Er hätte mindestens dem größeren der beiden Jungen auch noch die Fresse polieren sollen. Besser noch hätte er sie beide gleich abgeschlachtet. Wer wusste schon zu sagen, wie viele Tiere das vor Leid bewahrt hätte?

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