Herr Hütter und der Schraz

Herr Hütter und seine Hündin mochten die Abwechslung. Immer die gleichen Wege zu gehen, das war nicht ihre Sache. Die Hündin verließ sich natürlich auf Herrn Hütter, was die Auswahl der Wege anging. Und sie beschwerte sich auch nie, war es doch wieder einmal ein Weg, den Herr Hütter mochte und immer wieder gerne ging. Es gab da einige –

Aber oft genug verlangte es ihn wie sie nach Abwechslung. Und so zog er vor Beginn eines neuerlichen Spaziergangs immer wieder Google Maps zu Rate, obwohl er wusste, dass dieser Dienst nicht wirklich zuverlässig war. Oft genug stand er mitten in der Pampa –
Aber die Anregungen konnte man sich dort trefflich holen, und so hatte Herr Hütter sich an diesem Abend für eine ganz ungewohnte Route entschieden. In dem Ort, in dem er lebte, gab es einen Park, der in bestimmten Kreisen als »Hundepark« verschrien war – und von Hundebesitzern gerne genutzt wurde, um den geliebten Vierbeinern soziale Interaktionen zu ermöglichen.

Das Wetter indes war nicht das beste, und der Park praktisch nicht bevölkert, sah man von zwei Promenadenmischungen ab, die mit Herrchen auf parallel laufenden Wegen vorbei flanierten. Herr Hütter hatte damit ebenso wenig ein Problem wie seine Hündin. Die interessierte sich meist eh nicht für andere Hunde, mit denen sie sich nicht streiten konnte oder wollte.
Ungewöhnlich an der Route war allenfalls der Ausgangspunkt unterhalb der großen Unfallklinik. Immer wieder hielt Herr Hütter kurz an, konsultierte seinen Blackberry zur Orientierung und kredenzte seiner Hündin einige Leckerlis als Dank für das geduldige Warten.

Und irgendwann war da diese Frau. Alterslos. Herr Hütter interessierte sich nicht sonderlich für Frauen, und schon gar nicht für ihr Alter. Sie kam ihm und seiner Hündin auf einer asphaltierten Straße ohne Gehweg entgegen. Auf der einen Seite. Mit zwei Kindern. Das eine saß in einem Kinderwagen von dieser Art, bei der man sich fragte, in welcher Höhe über dem Erdboden wohl der Schwerpunkt lag, so vollgepackt war er mit merkwürdigen und unerklärlichen Accessoires. Das andere lief nebenher.
Herr Hütter mochte keine Kinder. Und er wusste natürlich, dass seine Hündin da mit ihm einig war. Insbesondere Kinder in der Altersgruppe zwischen drei und sieben Jahren standen auf einer Art schwarzer Liste. Da Herr Hütter sich nicht sonderlich für Frauen interessierte, mochte er es auch nicht, unnotwendigerweise in meist sinnlose Diskussionen mit ihnen verwickelt zu werden. Weshalb er mit seiner Hündin die Straßenseite wechselte. Nach links hinüber.
Das ältere Kind tat es ihm gleich. Es wechselte die Straßenseite. Es war vielleicht noch dreißig Meter entfernt. Es kickte einen Eisklumpen aus dem Schnee am Straßenrand und spielte ihn vor sich her. Es wich nicht aus. Der Eisklumpen kam auf Herrn Hütter und seine Hündin zu. Im allerletzten Moment wich Herr Hütter ein winziges Bisschen nach links aus, um das Eisstück nicht zu berühren. Das Kind ging rechts an ihm vorbei.
Aufgrund einer inneren Ahnung drehte Herr Hütter sich um und sah, wie das Kind den Eisklumpen aufhob und nach der Hündin warf.
»Vorsicht, Bürscherl!«, sagte Herr Hütter laut.
Aber das Kind – ganz offensichtlich ein Schraz – wollte nicht verstehen. Anstatt sich bedroht zu fühlen und zu reagieren, wie es jeder vernünftige Mensch angesichts einer von Herrn Hütter ausgesprochenen Drohung tun würde, griff es in den schon angetauten, harschen, wieder angefrorenen Schnee, und bekam einen weiteren Eisklumpen zu fassen, größer als der vorherige.
Herr Hütter verzog das Gesicht. Seine Augenbrauen näherten sich einander an, um eine unheilige Allianz gegen einen offensichtlich selbstmordwilligen Jungmenschen einzugehen. Ganz offensichtlich wusste das Kind nicht, mit wem es es zu tun hatte. Aber wie auch, dachte Herr Hütter. Und dennoch –
Als das Kind den zweiten Eisklumpen nach seiner Hündin warf, machte Herr Hütter drei, vier schnelle Schritte nach vorne und verpasste dem Schrazen mit der ledern behandschuhten Hand eine Ohrfeige. Sie war nicht schwer, nicht grob, eher ein Zeichen, eine Vorwarnung.
Und doch – Herr Hütter wäre überrascht gewesen, dass diese Ohrfeige keine Wirkung zeitigte, wäre er jemals bereit gewesen, sich von derlei Dingen überraschen zu lassen. Er wusste, dass das Kind nicht verstehen wollte, das Kind, das möglicherweise – oder vielleicht doch offensichtlich? – das Produkt einer völlig fehlgehenden Erziehung war.
Und es überraschte Herrn Hütter auch nicht, dass der Schraz ein weiteres Mal nach einem Eisklumpen griff, ihn aufhob, ausholte und ihn in Richtung der Hündin hinter Herrn Hütter warf. Und diesmal fegte Herrn Hütters Ohrfeige das verzogene Miststück von seinen Füßen.
Der Mutter indes war endlich aufgefallen, dass sich Herr Hütter an ihrem biologischen Unrat zu schaffen machen musste, zog jedoch die falschen Konsequenzen. Anstatt ihr missratenes Erbgut zur Ordnung zu rufen, fragte sie Herrn Hütter mit einer Wortwahl, die erkennbar auf wenig Übung im Umgang mit der deutschen Sprache schließen ließ: »Eyhwassollndasduarsch!«
Normalerweise wäre Herr Hütter darauf nicht weiter eingegangen und hätte vorgegeben, diese orthografisch wie dialektisch zweifelhafte Bemerkung nicht verstanden zu haben. Doch angesichts des sich aufrappelnden Gezüchts einer unheiligen Beziehung zweier vermutlich nicht lebenswerter sogenannter Menschen produzierte Herr Hütter im Augenblick vor allem eines: Adrenalin.
Und so ließ er sich dazu herab, zurückzufragen: »Was!?«
»Dasnmeinkindduverficktertriebtäter!«, schrie die Frau, die unter Berücksichtigung ihrer sprachlichen Fähigkeiten im Umgang mit Konflikten entsprechend schnell einige Gänge hochgeschaltet hatte.
Das Kind stand inzwischen wieder und sah sich um, wo es weitere Eisbrocken gab, die es nach der Hündin werfen könnte. Die Frau war mitsamt dem Kinderwagen herangetreten. Und Herr Hütter trat nun einen Schritt auf sie zu, mit zusammengezogenen, militanten Augenbrauen, und fauchte: »Willst du auch einen in die Fresse, du …« Und seine Faust bremste keinen halben Zentimeter vor ihrem Gesicht ab.
»Ischwerddischanzeignduschwein!«, nölte die Frau.
»Mach das!«, antwortete Herr Hütter. Er drehte sich um. »Schreib dir am besten gleich mein Kennzeichen auf!« Er klatschte zwei Mal mit der behandschuhten Hand auf seinen Hintern und ging davon, ohne das Weibstück noch eines weiteren Blickes zu würdigen.

Daheim bestellte Herr Hütter mit einem Gutschein von Vistaprint einen Pack Visitenkarten, die es ihm fürderhin erleichtern würden, solche … Menschen? … abzufertigen.
Und danach gönnte er sich einige Minuten persönlichen Ärgers. Das Kind hatte nicht geblutet. Eine vertane Gelegenheit, fand Herr Hütter. Und er war sicher, dass seine Hündin seiner Meinung gewesen wäre, hätte sie sich eine solche darüber bilden wollen.

Irgendwann mitten in der Nacht wachte Herr Hütter kurz auf und fragte sich, was das für Männer waren, die solche Frauen vögelten und Kinder mit ihnen zeugten. Aber Herr Hütter hatte keinen Faible für Fragen, auf die es keine schlüssigen Antworten gab.

 

Schraz: Eigentlich die Bezeichnung für kleine Menschen, Zwerge. Im Bayerischen Wald und in der Oberpfalz noch heute auch die Bezeichnung für lästige, ungeliebte, nervige Kinder. Unter https://www.wer-weiss-was.de/theme197/article1760310.html#1761032 fand sich seinerzeit eine recht ausführliche, seitens des Autors nicht verifizierte Erläuterung, versehen auch mit abweichenden Schreibweisen; diese ist allerdings inzwischen vom Netz genommen worden. Am einfachsten findet man Erläuterungen zum Begriff, in dem man bei Google sucht: etwa so.

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