Hype: Betrogene Jahrzehnte

1999 erreichte er seinen Höhepunkt, der »Jahr-2000-Problem-Hype«, der vor allem die IT-Branche beherrschte. Damals ging es letztlich um das Problem, dass Hard- und Software möglicherweise oder definitiv nicht in der Lage wären, nach dem 01.01.2000 ordnungsgemäß weiterzuarbeiten, weil sich viele, viele Jahre zuvor viele, viele Hardwaredesigner und Softwareprogrammierer viel Arbeit und Speicherplatz sparen wollten. Letztlich war der Hype damals eine sinnvolle Geschichte, denn die angenommenen Katastrophen blieben aus. Vielleicht wären sie auch nicht als Katastrophen eingetreten, aber es hätte viel Ungemach und eine ganze Reihe Probleme gegeben, hätte man nichts unternommen. (Und wie so was aussieht, kann man in diesen Tagen mit dem Scheck- und Kreditkartenproblem an Bankautomaten sehen; man sieht daran auch, dass der Mensch nichts, aber auch rein gar nichts lernt.)

Das eigentliche Jahr-2000-Problem war aber wohl nicht so sehr ein IT-Problem. Was am 01.01.2000 – oder eigentlich schon lange Zeit vorher, wenn man es genau nimmt – seine ordnungsgemäße Funktion einstellte, war das Gehirn einer immensen Zahl von Menschen, einer eindeutigen Mehrheit – wenn man es genau nimmt. Denn die Zahl 2000 hatte eine magische Komponente, die die mathematischen Fähigkeiten dieser Mehrheit der Menschheit außer Kraft setzte. Oder war es eine andere magische Kraft, die nur zeigte, dass die Menschheit noch nie wirklich rechnen konnte, es aber bislang mangels Bedeutung nur nie aufgefallen war?
Am 31.12.1999 feierte die Welt euphorisch den Wechsel ins 21. Jahrhundert, den Übergang ins 3. Jahrtausend – ein Jahr zu früh, wie die Immunen wissen; denn mangels eines Jahres Null – das eine Jahr nach Christi Geburt war ein Jahr, also das Jahr 1; es gibt kein Jahr Null – endet ein Jahrzehnt nach zehn Jahren – deshalb ja auch Jahrzehnt – am 31.12. einer runden, glatten, bruchfrei durch 10 teilbaren Jahreszahl. Das erste Jahrzehnt der christlichen Menschheit war am 31.12.10 zu Ende. Das 1. Jahrtausend endete am 31.12.1000, das 2. Jahrtausend am 31.12.2000.
Und in diesen Tagen haben wir es wieder, dieses Problem. Diesmal ist es auch ein IT-Problem, wie die Scheck- und Kreditkartensoftwareprogrammierer bewiesen haben. Aber es ist der Beweis, dass die Menschheit an sich nicht rechnen kann, in ihrer Mehrheit jedenfalls. Denn wie schon 1999 ist auch 2009 das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, des sensationellen dritten Jahrtausends zu Ende gegangen. Für den Teil der Menschheit, der nicht rechnen kann – und es nicht lernen will.
Da gibt es in einem Internetforum ein Thread mit dem schönen Titel »Die besten SF-Romane 2000–2009«. In diesem Thread wird nicht explizit darauf eingegangen, dass man sich gegenseitig über eben die besten SF-Romane aus dem ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends austauschen möchte, aber schon die Titelwahl unterstellt genau und ganz eindeutig, dass das die Absicht war und ist. Es gibt für diese zeitliche Eingrenzung keine andere Erklärung als diesen Rechen- und Denkfehler im menschlichen Hirn. Anderenfalls sollte man sich wundern, warum es keine Auseinandersetzungen über die »besten Fantasyfilme 1996–2003« gibt; und wohl auch niemand auf die Idee käme, sich an einer solchen denkbaren Diskussion wirklich mit Elan zu beteiligen. Dort jedoch, bei den »besten SF-Romanen 2000–2009« tut man es; heute gibt es in dem am Abend des 04.01.2010 gestarteten Threads schon 31 Statements (und 382 Zugriffe; Stand 076.01., 10.15 Uhr).
Noch viel besser sind natürlich Zeitschriften, die ihre Rechenkunststückchen für die Ewigkeit konservieren. Und am herausragendsten sind ausgerechnet die IT-Zeitschriften, Zeitschriften also aus und für die Bereiche, die aktuell wieder beweisen, dass eben just Softwareprogrammierer nicht davor gefeit sind, wichtige Teile ihres Gehirns nicht nutzen zu können. Da untertitelte der Autor eines Fachblattes für den Internetmarkt auf Seite 2 seinen Beitrag »Ten Years After« mit »Die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends sind rum. Rückblick auf 2000«. Ich fragte ihn per Mail, ob das nicht peinlich sei und ob dies nicht vielleicht eine Erklärung dafür sei, dass auf dem Hard- und Softwaresektor so viele Dinge nicht funktionieren, gar nicht, grundsätzlich nicht, nicht so, wie es sollte und wie man es – speziell als User – erwarten können sollte.
Seine Antwort – ich habe sie nicht mehr, unterbewusst wohl gelöscht, um das wörtliche Zitat vermeiden zu können – hat mich letztlich zutiefst erschrocken. Denn seine Erklärung war letztlich die, dass er sich irgendwann entschieden hätte, der Mehrheitsmeinung zu folgen. Kalender seien ja eh nur eine Konvention, und es wäre einfacher. Das ist, mit Verlaub, mehr als grauenerregend. Nicht nur, dass der Hinweis auf die Konvention »Kalender« hanebüchener Unsinn ist, geht es doch um Mathematik und die Frage, ob die »ersten zehn Stück« von irgendwas aus zehn oder doch nur neun Stück bestehen, ob 7 plus 3 10, 9 oder 11 ergibt. Noch erschreckender ist für mich, dass ein Journalist – oder zumindest jemand, der sich sicherlich als solcher bezeichnen möchte – eine solche Einstellung für sich in Anspruch nimmt. Gut, es mag sein, dass IT-Journalisten jetzt nicht gerade die Schreiberlinge sind, die große Chancen hätten, einmal in die Fußstapfen von Woodward und Bernstein (damit Sie nicht suchen müssen: das waren die beiden Journalisten, die man gemeinhin mit der Aufdeckung der Watergate-Affäre in Zusammenhang bringt, wobei deren Rolle heutzutage wohl auch ein wenig differenzierter zu betrachten ist) zu treten, aber dennoch … Sollte nicht eigentlich jeder Mensch in seinem Denken zu vermeiden suchen, wie ein dummes, Gras fressendes Schaf den anderen Gras fressenden Schafen hinterher zu laufen – egal, wohin es geht? (Diese Ausführung dient nicht dazu, Schafe zu beleidigen.)
Letztlich aber ist es in der Tat für mich eine Erklärung dafür, was mich in meinem Hauptberuf (als Netzwerkadmin – mit Turnschuhen an den Füßen, ich gebe es zu) tagtäglich am meisten ärgert: fehlerhafte Hardware, fehlerhafte Software, fehlerhaftes Zusammenspiel zwischen diesen beiden Komponenten, gekrönt von arroganten, frechen, pampigen und letztlich auch nur dummen Supportern an irgendwelchen Hotlines. Andererseits gerate ich hier schnell in ein Henne-Ei-Problem: was war zuerst da? Die Dummheit des Menschen? Oder das Jahr-2010-Problem? Oder spielt das überhaupt eine Rolle?

Auch auf die Gefahr hin, dass sich die menschliche Minderheit der Korinthenkacker, der Erbsenzähler und Ameisenf***er niemals von ihrem Minderheitsstatus wird befreien können, werde ich für mich niemals bereit sein, es auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen, hier mit der Mehrheit schwimmen zu gehen. Deren Wasser ist mir zu schmutzig, deren Badehosen zu eng – und deren Badekappen für mein Gehirn einfach nicht groß genug.

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