Keine Sicherheit, keine Gnade

Christopher Ecker
DER BAHNHOF VON PLÖN
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2016, Hardcover ohne Schutzumschlag, ISBN 978 3 95462 530 7

VORBEMERKUNG
Sind erst einmal die Sicherheiten geschwunden, weiß man, dann ist alles möglich, alles denkbar. Ein Zitat vom Buchrückseitentext. Und in der Tat: In der Regel lese ich Bücher, die ich nicht verstehe, nicht vollständig. Es hilft ja nichts. Allerdings sind die Gelegenheiten, da dies geschieht, selten. Noch seltener indes ist es, dass ich so ein Buch lese – und es mir gefällt.
Aber der Reihe nach …

WORUM GEHT ES?
Das ist schon mal das erste Problem. Es ist nicht wirklich einfach, die Handlung zu beschreiben, ohne zu spoilern, ohne wichtige Aspekte zu verraten. Es ist auch praktisch unmöglich, sie zu beschreiben, ohne ein eigenes Buch veröffentlichen zu müssen, denn mit einer einfachen Beschreibung ist es nicht getan. Bewundernswert ist insofern der Verfasser des Buchrückseitentextes, der mit den folgenden Worten zwar im Grunde nichts über die Handlung verraten hat, aber einen ausgezeichneten Eindruck über den Inhalt des Buches gibt:
Zusammen mit seinem trollähnlichen Diener haust der anfangs noch namenlose Ich-Erzähler – der später als Phineas identifiziert werden wird – in einem schäbigen New Yorker Apartment und führt dubiose Aufträge für eine Person durch, die sich »der Lotse« nennt. Gegenwärtig soll eine höchst befremdliche Fracht transportiert werden – nämlich Leichen in bedenklichem Zustand, von einem Hotelzimmer im dritten über eines im zweiten, letztlich in eines im ersten Stock des Hotels –, doch die Arbeit erweist sich als so kraftraubend und sinnentleert, dass der Erzähler beginnt, nicht nur an seiner Aufgabe, sondern auch an sich selbst zu zweifeln. Wer ist er wirklich? Warum ist sein Leben eine Lüge? Und wieso ist er in der Lage, von den USA aus mit der U-Bahn nach Paris, Amsterdam und Kiel zu fahren?
Das sind in der Tat essenzielle Kardinalsfragen, denen sich der Leser des Buches zu stellen hat. Es gibt auch noch andere Aufgabenstellungen, mit denen Phineas konfrontiert wird.
Im Laufe der Handlung wird immerhin klar, dass er, der Protagonist, nicht einfach nur ein Säufer und Fast-Kettenraucher ist, sondern eine bemerkenswerte Vergangenheit hat – die ich hier eben nicht näher angehen möchte, um nicht in Gefahr zu geraten, zu spoilern; immerhin darf ich aber erwähnen, dass ihm neben der im Laufe der Handlung weitgehend genommenen Fähigkeit zur Teleportation – so interpretiere ich die beschriebenen U-Bahn-Fahrten, die eigentlich Sprünge sind – noch andere Fähigkeiten zu eigen waren, die aber scheinbar längst verloren gegangen sind.

WAS GEFIEL?
Eckers Schreibstil ist über alle Zweifel erhaben. Immerhin – und das halte ich für bemerkenswert – ist es ihm gelungen, mich bei der Stange zu halten, während ich über die allerweitesten Strecken des Buches den Eindruck hatte, nichts wirklich zu verstehen – und auch am Ende eigentlich nicht wirklich aufgelöst wird, wer oder was Phineas wirklich ist. Das ist nicht nur der Spannungskurve zuzuschreiben, die dem Leser bis zuletzt vertrauensvoll mitzuteilen in der Lage ist, dass alles gut wird – für ihn, den Leser; dass es gelogen ist, muss er ja nicht gleich erfahren –, sondern auch dem immer spannend und fesselnd bleibenden Schreibstil des Autors.
Zugegebenermaßen hat es mich irritiert, letztlich hat es mir aber doch eben ausnehmend gefallen, dass ich die ganze Zeit im Unklaren gelassen wurde, worum es wirklich ging, welche Person dieser zunächst namenlose Protagonist war, und am Ende sogar, dass eigentlich nichts aufgelöst wurde. Ich habe das Buch weggelegt und nicht vergessen. Immer wieder beschäftigte und beschäftigt mich die eine oder andere Detailfrage, und immer ist das Ergebnis das Gleiche. Ratlosigkeit. Nichtwissen. Fragezeichen. Auch wenn sich das für manchen deutschen Geiz-ist-geil- und Bauspar-Leser wie eine Mogelpackung anhören mag, sie ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Ich für meinen Teil habe hier durchaus sehr viel geboten bekommen.
Die Frage, ob es sich nun um ein SF-Buch handelt oder nicht – auf dem Buchrückseitentext ist mal wieder nur von »Fantasy« die Rede; und viele Autoren bestreiten heute ja gerne, SF geschrieben zu haben, nur um nicht in diese vermeintlich unselige Schublade gepackt zu werden –, bleibt letztlich ebenso unbeantwortet. Man kann das Buch vielleicht auch auf unterschiedliche Weisen lesen. Es gibt Hinweise, dass es sich »nur« um einen skurrilen Thriller handelt. Es gibt auch Hinweise auf einen Fantasy-Hintergrund – mit Burgen, mittelalterlichem Schwertgetöse, untergegangenen Festungen und so weiter. Aber am allerehesten hat es für mich noch Hinweise auf einen SF-Hintergrund gegeben, nicht nur unter Berücksichtigung der vorhandenen und ehedem vorhandenen Fähigkeiten des Protagonisten, sondern auch, wenn man die gut verstreuten und selten zusammenhängend dargestellten Elemente der Vergangenheit des Phineas miteinander verknüpft. In diesem Roman scheint mindestens ein »altes Volk« eine Rolle gespielt zu haben (wobei das »alte Volk« nicht im lovecraftschen Sinne zu verstehen ist), wenn nicht noch mehr, und Phineas, sein Diener Jérôme sowie auch der »Lotse« und einige andere Figuren, die eine Rolle spielen, könnten mit diesem »alten Volk« in enger Verbindung stehen, ihm möglicherweise sogar angehören.
Beweisen kann ich das freilich nicht. Ich kann es interpretieren. Nur interpretieren. Und gemeinerweise scheint der Roman Möglichkeiten auch für ganz andere Interpretationen bereitzuhalten.

WAS GEFIEL NICHT?
Nachdem all die Dinge, die normalerweise bei Romanen, die ich nicht verstehe, hier genannt werden sollten, schon zuvor abgehandelt wurden, bleibt für diesen Passus einfach nichts übrig.

ZITAT GEFÄLLIG?
Nein. Das ist schwierig. Das Buch ist durchaus komplex. Es handelt sich im Grunde um einen Bericht des Protagonisten, und er schweift oft ab. Mal in die Vergangenheit, mal in Betrachtungen seines Lebens, in philosophische Gedanken. Ein Zitat, möchte ich dennoch anbringen, einen kurzen Absatz, der mir in einem ganz anderen Zusammenhang aufgefallen ist; er findet sich auf Seite 221:
Schreiben ist nicht Handeln. Es ist ein Hinauszögern des Handelns. Sobald ich also niedergeschrieben habe, was festzuhalten ist, werde ich das tun, was ich zu tun habe. Dann endlich werde ich handeln. Handeln kann richtig oder falsch sein. Schreiben dagegen ist das blasse Wasserzeichen der Feigheit.

ZU EMPFEHLEN?
Ja. Unbedingt. Es erfüllt einen mit einem gewissen Grusel, ein Buch zu lesen, bei dem man nie weiß, woran man ist, das aber spannend und verheißungsvoll ist, bis man am Ende erkennen muss … Ein Buch, das mit dem Satz »Am nächsten Tag war ich Lehrer für Deutsch und Philosophie an einem Kieler Gymnasium.« endet, ist die Lektüre allemal wert.

NOCH WAS?
Ich habe das Buch im Rahmen des DSFP 2017 gelesen, der alle SF-Romane und SF-Kurzgeschichten berücksichtigt, die erstmals 2016 erschienen sind. Ich werde dieses Buch nominieren. Ich weiß, dass die meisten meiner Komiteekollegen dies vermutlich nicht tun werden, aber das ist mir egal. Ich lese viele Bücher, ich lese selten gute, noch seltener sehr gute Bücher – und das hier war das erste Buch, das mir zusätzlich noch den Grusel des (vermeintlich?) vollständigen Nichtverstehens gegönnt hat. Das gehört belohnt.

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