Ungerade Erinnerungen

Heute ist es 23 Jahre her, dass mein Vater gestorben ist. Der Mann, den ich Papa nannte. Der Mann, von dem ich lange dachte, ich hätte nie eine wirkliche Beziehung zu ihm gehabt. Er war der Ernährer der Familie, er ging arbeiten. Er war streng – nach kindlichen Maßstäben. Er war ein Mensch, den ich zeit seines Lebens nie wirklich verstanden habe. Er war irgendwie völlig anders als ich.

Als er dann starb, war er eben nicht mehr da. Und es dauerte eine ganze Weile, bis ich anfing, ihn zu vermissen. Es waren nur Kleinigkeiten, die nicht mehr da waren. Seine Stimme am Telefon, weil er immer zuerst den Hörer abnahm. Die Begegnungen, wenn meine Eltern nach Südtirol in den Urlaub fuhren. Sein älter werdendes Gesicht. Und die Überlegung, ob er wirklich mein Vater sei, weil ich bei mir keine Ähnlichkeiten erkennen konnte. (Die gibt es heute auch nur marginal, aber immerhin ist sicher, dass mein Bruder und ich den gleichen Vater hatten, denn wir sehen uns – beide frisch rasiert – so ähnlich …)

Mein Vater. Papa. Prägend in meinem Leben war meine Mutter. Und ist es noch, denn sie lebt noch. Und trotzdem.
Manchmal überlege ich, ob ich nicht gerade deshalb so anders geworden bin, als mein Vater war, weil er so anders war, als das, was ich sein wollte. Vielleicht eine typische Bubenkarriere. (Ich müsste mal meinen Bruder dazu befragen.)

Im alltäglichen Leben gab es viele Dinge, die den heranwachsenden Michael Haitel an seinem Vater störten. Und umgekehrt war das sicher nicht anders. Wie das halt so ist. Heute, nach dreiundzwanzig Jahren, bin ich auf die Todesanzeige und die beiden Passfotos beim Stöbern in alten Unterlagen gestoßen. Heute, nach dreiundzwanzig Jahren, frage ich mich nicht oft, aber doch manchmal, wie es wäre, würde er noch leben. Aber das ist eine Frage, die nicht beantwortet werden wird.

Der guten Ordnung halber: Das obere Passfoto dürfte aus den 80ern stammen, das untere aus den 60ern. Genau weiß ich es nicht mehr.

Und: Aus der Erinnerung heraus glaube ich, dass ich ihn geliebt haben muss. Es gibt nichts in mir, keine Regung, die dem widerspricht. Im Gegenteil. Während ich das hier schreibe, bin ich vor allem traurig.